Renate 1957

Neukirchen-Vluyn
Köln
Hannover
Paris
Wien
Hannover
Kunsthistorikerin

DEZEMBER 1985: Ich werde an die Pforte des Museums gerufen – ein Paket ist für mich abgegeben worden. Ich mache gerade eine schwierige Zeit durch, denn ich habe mich kurz zuvor von meinem Mann getrennt. Das Päckchen haben meine Eltern geschickt, es ist ein Nikolauspäckchen für mich erwachsene Frau und enthält einen selbstgebackenen Kuchen. Ich bin ganz gerührt, muss lachen und denke: So etwas machen nur Eltern.

APRIL 1986: Meine Nichte wird am selben Tag geboren wie meine im Krieg verschollene Tante. Mein Bruder nimmt seine wenige Stunden alte Tochter und legt sie neben unsere todkranke Grossmutter auf das Kopfkissen. Sie wendet mühsam den Kopf und gibt dem Kind einen Kuss auf der Wange, flüstert: «Ich habe auch einmal eine Tochter gehabt.»

SEPTEMBER 1994: «Ich freue mich, zu meiner Frau zurückkehren zu können.» So endet der Abschiedsbrief des Mannes, der einen Tag zuvor seinen Koffer in meine Wohnung getragen hat. Wie ein Dieb in der Nacht stiehlt er sich wieder aus meinem Leben.

JUNI 1996: Ich höre im Vorbeigehen: «Tut mir leid, wir sind ausverkauft.» Ich habe eine Freikarte übrig, drehe mich um und biete sie dem Herrn an.

JANUAR 2001: Die jüngste Tochter meines Mannes, die mit uns zusammenlebt, bedankt sich nur bei ihrem Vater für unser Geburtstagsgeschenk. Sie schaut mich nicht an.

AUGUST 2002: Ich höre Bremsen quietschen und ein Alarmsignal, mein Auto dreht sich, ich sehe einen Bürgersteig mit Menschen, eine Betonsäule und denke: «Das ist das Letzte, was Du siehst.» Mein Auto kommt zum Stehen. Die Strassenbahn hat die Beifahrertür so eingedrückt, dass das verbogene Blech gerade dabei ist, sich in meinen Ellbogen zu bohren. Ein kleiner Ritzer, mehr nicht. Der Wagen ist ein Schrotthaufen.

OKTOBER 2003: Ich erfahre, dass meine Grosseltern das Kind ihrer minderjährigen Tochter als ihr eigenes Kind ausgegeben haben – mein Onkel ist eigentlich mein Cousin. Er selbst hat es als Erwachsener durch einen Zufall herausgefunden. Jetzt wird mir endlich klar, warum er den Kontakt zur Familie abgebrochen hat.

JULI 2004: In der Nacht sitze ich bei weit geöffneter Terassentür zusammen mit meiner Mutter in eine Wolldecke gewickelt auf der Bettkante. Sie lehnt den Kopf an meine Schulter, und wir sind eins. Jetzt. Denn wir beide wissen, dass sie stirbt.

JULI 2004: Ich höre zufällig, wie meine Schwester unsere Tante zu einem Gespräch in ein Zimmer bittet. Wir haben vereinbart, dass wir Schwestern ihr zum Dank für ihre Hilfe bei der Pflege unserer sterbenden Mutter ein Schmuckstück schenken wollen. Ich stehe auf und komme mit. Da wirft mir meine Schwester einen hasserfüllten Blick zu.

JULI 2008: Ich komme nach mehrstündiger Fahrt zum Krankenhaus und erfahre, dass mein kranker Halbbruder in der Nacht gestorben ist. Meine Schwester, die wusste, dass ich ihn unbedingt noch einmal sehen wollte, hat mich nicht rechtzeitig angerufen. Da fällt bei mir innerlich eine schwere Tür ins Schloss.

29.05.2014