Victoria 1986

Garbsen
Pittsburgh
Frankfurt am Main
Hamburg
Hannover
Münster (Westfalen)
Marburg
Zeitungsverträgerin
Kassierin
Verkäuferin
Sekretärin
Rezeptionistin
Kellnerin
Messehostess
Promoterin
Sprecherin
Regieassistenz
Schauspielerin

SEPTEMBER 1990: Ich stehe im Kindergarten vor meinem Kleiderhaken mit Schmetterlingsbild. Links neben mir hängt ein Mädchen mit kurzen braunen Haaren ihre Jacke an ihrem Kleiderhaken mit Schaf auf. Ich frage sie, ob wir Freundinnen sein wollen. Wir schütteln uns die Hände. Das Mädchen heisst Sina.

OKTOBER 1992: Im Kindergarten ärgern die Jungs uns Mädchen und wollen uns küssen, ich komme als erste auf die Idee, einfach zurück zu küssen. So bekomme ich meinen ersten Kuss, auch noch von meiner großen Kindergartenliebe Daniel. Alle um uns herum schreien «Iiiiiih» und ich bin das glücklichste Mädchen auf der Welt.

MAI 1994: In der Schule kann ich etwas an der Tafel nicht lesen und gehe nach vorn, um richtig lesen zu können. Als meiner Lehrerin das auffällt, macht sie einen Sehtest für die ganze Klasse. Es stellt sich heraus, dass ich eine Brille brauche. Ich bin stolz und suche mir die bunteste aus, die ich kriegen kann.

JUNI 1997: Ich spiele im Schul-Musical mit. Ich kann aber nicht singen, deshalb schreibt meine Lehrerin für mich eine Sprechrolle dazu: der Geier. Ich liebe diese Rolle, bringe das Publikum zum Lachen und habe das kommende Jahr einen neuen Spitznamen: Geier.

FEBRUAR 2004: Ich spreche das erste Mal an einer Schauspielschule vor. Ich will zwar erst mein Abitur machen, bin aber neugierig, weil ich das schon seit Jahren machen will. Ich spreche «Hexenjagd» und «Gollum» vor. Die Dozenten sagen mir, dass ich nichts kann und dass ich mir was anderes suchen soll. Als ich aus dem Raum hinausgehe, weiss ich wirklich, dass ich Schauspiel studieren will. Aber erst mache ich mein Abitur.

AUGUST 2010: Ich suche mit meiner ganzen Familie meine Grossmutter, die wieder einen Depressionsschub hat und seit zwölf Stunden verschwunden ist. Um zwei Uhr morgens sehe ich meine Mutter so sehr weinen wie noch nie. Ich gehe nochmals raus und finde meine Grossmutter in der Autogarage, wo wir schon sechs Mal gewesen waren, in ihrem Kofferraum, sie wollte ersticken. Und ich glaube an Schicksal.

SEPTEMBER 2010: Meiner Grossmutter geht es gerade wieder gut, da wird mein Vater nach der Trennung meiner Eltern krank. An der Uni begegnet man mir mit unnötigem Mitleid, weil ich als einzige Absolventin keinen Festvertrag habe. Ich versuche, über allem zu stehen und mache alles was mir nicht gut tut, bis ich eine Gürtelrose bekomme. Ich fahre ans Meer. Als ich wieder gesund bin, weiss ich, dass ich unbedingt aus Frankfurt wegziehen muss und dass ich Segeln und Kitesurfen lernen will.

JANUAR 2011: Ich stehe irgendwo im Süden Portugals auf einem Berg und hüte Ziegen. Ich begreife, dass es auch noch etwas anderes, viel Wichtigeres im Leben gibt als Theater und bin froh darüber. Jetzt macht mir der Beruf wieder Spass.

JULI 2012: Das erste Mal bin ich mit einem Mann zusammengezogen. Es funktioniert aus verschiedenen Gründen nicht und an einem Sommerabend merke ich schon beim Tür aufschliessen, dass diese Wohnung nie mein Zuhause war und ich hier nicht mehr schlafen will.

MÄRZ 2013: In einer Potsdamer Augenklinik erfahre ich von einem Arzt, dass meine Hornhaut zu dünn zum Lasern ist, und ich auf dem linken Auge mit keiner OP mehr hundert Prozent Sehschärfe erreichen kann. Von allen anderen Methoden rät mir der Arzt ab; ich könne ja Brille tragen. Als ich von meinem Beruf spreche, kommt ein salopper Spruch. Ich habe zum ersten Mal wirklich Angst um meine Augen.

20.11.2013