Iris 1948

Belgrad
Zürich
Grandvaux
Thalwil
Richterswil
Wasterkingen
Herisau
Wil (Zürich)
Mannequin
Schauspielerin
Lageristin
Marktforscherin
Zeitschriftenverkäuferin
Übersetzerin
Hochbauzeichnerin
Sekretärin
Weblehrerin
Kursleiterin
Werklehrerin
Zeichenlehrerin
Dozentin
Corporate Design Managerin
Rechnungsprüferin

JULI 1951: Meine Mutter und ich fahren mit dem Nachtzug nach Rimini. Ich bin das erste Mal am Meer. Obwohl ich noch nicht schwimmen kann, trägt mich meine auf dem Rücken schwimmende Mutter auf dem Bauch weit ins Meer hinaus. Es ist wunderschön.

SEPTEMBER 1955: Ein ruhiger, sonniger Herbstmorgen. Ich bin auf dem Schulweg. Plötzlich ein Krachen, und ich weiss nichts mehr. Ich erwache kurz aus meiner Bewusstlosigkeit und sehe das Fleisch meines Oberschenkels aus meinem Bein herausquellen und dahinter liegt der Knochen. Das Fleisch ist rot und hat die Struktur von Orangenfleisch. Ich denke: Das also sind jetzt Zellen…

APRIL 1963: Ich komme nachts um 10 Uhr nach Hause. Vor dem Haus steht ein Krankenwagen. Ich gehe in die Wohnung, zwei Sanitäter tragen den schlaffen Körper meines Grossvaters in ein anderes Zimmer aufs Sofa. Mit einem Stück Verbandstoff fixieren sie seinen Kiefer. Sie falten seine Hände über dem Bauch. Die Haut meines Grossvaters ist gelb, nur seine Lippen sind bläulich. Auf dem Stubentisch liegen seine Uhr, seine Brille und seine Fingerringe.

FEBRUAR 1966: Ich bin mit meinem Stiefvater in den Skiferien. Ich erwache nachts, weil er zärtlich meine Wange zu streicheln beginnt. Ich flüchte ins WC und schliesse mich dort bis am Morgen ein. Der nächste Tag ist, als wäre nichts geschehen, obwohl mir doch Ungeheures passiert ist.

APRIL 1968: Ich fahre mit meinem Freund nach Südfrankreich. Wir fahren die ganze Nacht durch und parken gegen Morgen den Deux-Chevaux im Rhône-Delta, auf dem Sand direkt am Meer. Wir schlafen miteinander im Auto, während die Sonne aufgeht, dann schlafen wir eng umschlungen ein.

APRIL 1982: Wir verwirklichen unseren Traum und kaufen ein altes Bauernhaus. Ich liebe sein Geruch nach altem Holz, den grossen Garten, den alten Birnbaum.

AUGUST 1984: Ich bin schwanger und so krank, dass ich zeitweilig nicht mehr sprechen und nicht mehr gehen kann und denke, ich würde sterben. Ich bin überfordert. Mein Mann unterstützt mich nicht. Ich lasse das Kind abtreiben. Der Arzt saugt mein Kind mit einem Schlauch aus der Gebärmutter in ein transparentes Plastikgefäss ab. Im Lavabo neben dem Behandlungsstuhl spült er die blutige Flüssigkeit in den Ausguss. Ich bin sehr traurig und muss immer nur weinen.

MAI 1989: Ich verliebe mich und sage meinem Mann, dass ich ihn verlassen will. Wir sitzen nebeneinander im Garten neben dem Komposthaufen und weinen beide. Ich liebe meinen Mann über alles und verlasse ihn trotzdem.

NOVEMBER 2006: An einer letzten Sitzung mit der Schulleiterin, der Personalverantwortlichen, den beiden Rechtsanwälten und mir lügt die Rektorin ganz unverblümt und offensichtlich. Sie bekommt dabei ganz ockergelbe Augen, die Iris franst an den Rändern aus, comicartig. Ich denke, gleich verliert sie den Verstand. Man sagt mir, es stehe Aussage gegen Aussage, und die Aussage der Rektorin habe mehr Gewicht. Ich willige in meine vorzeitige Entlassung ein. Ich verlasse das Büro. Mitten auf der Bahnhofstrasse packt mich eine so grosse Müdigkeit, dass ich mich in einem Warenhaus auf ein Sofa setzen muss.

JANUAR 2011: Morgens um 6.30 Uhr bekomme ich einen Anruf, dass die Ambulanz meine fast 90-jährige Mutter ins Spital bringe. Über der Schweiz geht ein Eisregen nieder. Wir fahren über die vereisten Strassen ins Spital am Wohnort meiner Mutter. Wir warten lange im Wartezimmer, die Türe steht offen. Plötzlich wird in grosser Eile ein Krankenbett an uns vorbei gerollt, darin liegt eine Frau an lauter Schläuchen. Ich kann meine Mutter nur knapp erkennen. Ich renne dem Bett nach und schreie «Das ist meine Mutter!», aber die Schwestern halten mich zurück. Meine Mutter stirbt. Jetzt bin ich ganz allein auf der Welt.

13.03.2013