Maruschka 1936

Bern
Berlin
Bern
Thun
Vevey
Nidau
Aarberg
Bern
Kindergärtnerin
Buchhändlerin

FEBRUAR 1939: Mein Grossvater lädt meine Mutter, meinen Bruder und mich nach Bern in die «Ferien» ein, weil er weiss, dass die Grenzen bald geschlossen werden. Mein Vater bleibt als Journalist in Berlin. Wir verlieren alle unsere zurückgelassenen Sachen, als unser Haus dort durch Bomben zerstört wird.

MÄRZ 1940: Mein Bruder und ich werden Schlüsselkinder: Meine Mutter muss arbeiten und erhält keine Unterstützung von ihrer Familie, weil sie meinen Vater, einen Flüchtling aus Kiew geheiratet hatte. Mein Grossvater ist Arzt und nimmt sich keine Zeit, uns zu betreuen. Wir Kinder begreifen nicht, wie ungeborgen wir leben. Hie und da kommt mein Vater plötzlich zu uns und geht plötzlich wieder weg. Ich habe bis heute keine Ahnung, wie er über die Grenze kam.

FEBRUAR 1944: Mein Vater nimmt sich krank und depressiv das Leben. Seine Eltern geben meiner Mutter die Schuld. Einmal kommt der Grossvater aus Kiew mit einer Pistole zu meiner Mutter, um sie zu töten. Mein kleiner schweizer Grossvater erklärt dem russischen Hünen ganz ruhig, er solle die Waffe weglegen und nach Hause gehen. Wir Kinder schauen zu.

AUGUST 1952: Mein Bruder geht aus dem Leben. Grossvater hatte ihn als Gymnasiasten bestimmt, obwohl er lieber ins Konservatorium gehen wollte und es liebte, mich, seine Vertraute, auf dem Klavier und der Flöte zu begleiten.

APRIL 1957: Ich finde endlich in Thun eine Stelle als Kindergärtnerin, nachdem ich im Pestalozzi-Dorf tätig war und erleben musste, wie schlecht kriegsgeschädigte Kinder behandelt wurden.

APRIL 1960: Ich heirate nach Vevey. Wir bewohnen eine kleine Wohnung mitten im Rebberg über dem Genfersee. Die Besitzer haben eine Gärtnerei, ich helfe beim Gemüserüsten und frische meine Französisch-Kenntnisse auf.

MÄRZ 1961: Geburt meines ersten Sohnes. Ich halte mich nicht an die Vorschrift, das Baby in seinem Zimmer in Ruhe zu lassen. Nein, wo immer ich mich befinde, ist er im Körbchen neben mir. Er hat immer Hunger!

JANUAR 1963: Wir ziehen nach Nidau in ein kleines Haus. Mein zweiter Sohn kommt auf die Welt. Während ich im Spital bin, kommt meine immer hilfsbereite Mutter und kümmert sich um meine «Männer».

MAI 1966: Wieder zügeln wir: diesmal nach Aarberg. Dort kommt meine Tochter cerebral gelähmt zur Welt. Drei Jahre trainieren wir mit physiotherapeutischer Anleitung. Meine zwei wilden Buben verhalten sich mäuschenstill, während ich mit ihr übe. Sie entwickelt sich zu einer gescheiten, starken und gesunden Frau.

DEZEMBER 2012: Heute bin ich seit sechsunddreissig Jahren alleinstehend, seit vierzehn Jahre geschieden, sechsfache Grossmutter und fünffache Urgrossmutter. Ich habe ein gutes Leben, ganz für mich, mit Freundinnen, mit der Familie – ich kann tun, was mir Spass macht.

30.12.2012