2010

JANUAR 2010: Ein neuer Tanztrend rettet mein Leben. Es klingt bescheuert, aber ich stehe dazu: «Shake it, senora!» und mir geht es gut.

JANUAR 2010: Ich stehe das erste Mal als Performerin mit einem eigenen Projekt auf der Bühne – natürlich zusammen mit Beatrice. Ich bin der glücklichste Mensch auf der Welt.

JANUAR 2010: Ich liege mit Maria im Bett. Wir schauen uns Wohnungsinserate an. Ich rufe an und wir können direkt zur Besichtigung. Wir ziehen uns an und eilen zur Wohnung. Eine Stunde später haben wir den Vertrag unterschrieben.

JANUAR 2010: Ich habe einen Konflikt mit meiner Professorin, weil ich ihre altmodische Art des Unterrichtens furchtbar finde. Sie verbietet mir, sie weiterhin zu kritisieren, da sie sonst erneut einen Gehörsturz erleide wegen uns aufmüpfigen Studentinnen. Diese Begründung finde ich so banal, dass ich daraufhin tatsächlich nur noch sanft Kritik übe.

JANUAR 2010: Meine Mutter liegt im Krankenhaus. Sie hat sich das Bein gebrochen, vierfach. Als ich die Haustüre öffne, ist es dunkel. Unser Hund stürmt auf mich zu und ich halte ihn fest. So einsam, wie jetzt habe ich mich lange nicht mehr gefühlt. Für einen Moment, denke ich an meinen Vater und verwerfe den Gedanken gleich wieder: Er wird mir nicht helfen, er hat mir nie geholfen.

JANUAR 2010: Ich finde in Neuseeland das schönste Festival der Welt: mitten in der Natur, umweltbewusste Menschen, Kinder, Musik zum Tanzen und Geniessen, Workshops. Und nach dem Festival wird der Platz wieder der Natur zurückgegeben. Da will ich unbedingt wieder hin!

JANUAR 2010: Meine erste längere Beziehung mit Janine geht zu Ende. Noch während wir zusammen sind, erleide ich einen Nervenzusammenbruch. Alles wird mir zuviel. Sie nimmt immer mehr Abstand.

FEBRUAR 2010: Ein Mann verlässt seine Freundin. Ich spüre zum ersten Mal in meinem Leben, dass dieser Mann mein Vater ist.

FEBRUAR 2010: Ich renne durchs Haus, heule nur noch Rotz und Wasser, schlage mit meinen Fäusten gegen die Wand und schreie, bis meine Stimmbänder nicht mehr mitmachen. Sonja ist tot.

FEBRUAR 2010: Endlich finde ich meinen Platz in der Kunst und entdecke wahre Leidenschaft: Ich muss Bilder machen.

FEBRUAR 2010: Meine Partnerin erhält die Diagnose: fortgeschrittener Krebs.

FEBRUAR 2010: Mariela kann nicht mal mehr Englisch reden. Die Israelis weinen auch schon fast. Und ich ersticke vor Lachen. Dieses brasilianische Zeug ist ganz schön krass.

FEBRUAR 2010: Ich höre zum ersten Mal meine Musik in einem Theater und bin glücklich.

FEBRUAR 2010: Das Telefon klingelt. Jemand von YFU erklärt mir, das ich für das Austauschjahr mit Musikprogramm in Schweden angenommen worden bin. Im nächsten Sommer fliege ich nach Schweden!

FEBRUAR 2010: Ich mache einen Spaziergang im Gebirge Vietnams. Ich blicke auf zwei Pferde, die mit wehenden Mähnen an einer Klippe stehen. Dahinter tun sich mächtige Berge mit Reisterassen auf. Ich könnte kotzen. Vor Glück.

FEBRUAR 2010: Zum 60. Geburtstag verbringen wir mit allen Söhnen und Hannele eine Traumwoche in einem Blockhaus in Luosto im tiefverschneiten Lappland.

FEBRUAR 2010: Ich arbeite mit meinem Vater zusammen und geniesse es, ihn jeden Morgen zu sehen.

MÄRZ 2010: Chris ist zurück.

MÄRZ 2010: In der Fotoserie «ausgezogen» fotografiere ich lustvoll meine umfangreiche Dessous-Sammlung in Arrangements. Nachdem ich wegen Brustkrebs eine Brust amputieren und mich einer Chemotherapie unterziehen musste, werde ich sie nicht mehr anziehen können. Jetzt bin ich eine Amazone.

MÄRZ 2010: Ich entscheide mich, in Frühpension zu gehen. An meinem Abschieds-Apéro halte ich eine sehr persönliche Ansprache unter dem Motto «Carpe diem» und ernte einen geradezu umwerfenden Applaus.

MÄRZ 2010: Mein ärztlicher Diagnosebogen sieht aus, als hätte ein betrunkener Dreijähriger mit einem Filzstift darauf herum gemalt. Eigentlich sollten da symmetrische Kurven sein.

MÄRZ 2010: Nach einer durchtanzen Nacht bastelt mir Alex auf der Skipiste in Adelboden ein Schiff und ich weiss, das ist mein Mann.

MÄRZ 2010: Ein unglücklicher Zufall macht aus B. einen anderen Menschen. Er blickt mich verstört und dennoch vertraut aus dem Krankenbett an, als würde er mich noch kennen, aber meinen Namen nicht mehr wissen.

APRIL 2010: Mein heftigster Streit mit meinen Eltern. Mein Vater gibt mir eine Ohrfeige. Sie ist nicht stark, doch ein schmerzhafter Überdruck entsteht in meinem Ohr. Schlimmer ist, dass mein Vater an meiner Kette – ein Geschenk von ihm – hängenbleibt und sie reisst.

APRIL 2010: Meine Nachbarin zeigt mir das winzige Zimmer, das sie mit ihrem Mann und zwei Kindern bewohnt, erzählt mir die schwierigen Umstände ihres Lebens und schenkt mir danach zwei gebratene Fische, die sie illegal aus dem Xihai gefischt hat, und dazu selbst gemachte Mantou.

APRIL 2010: Im Programmheft steht mein Name unter Regie, also muss es stimmen.

APRIL 2010: Ich sitze mit überkreuzten Beinen in einem buddhistischen Tempel und habe zum ersten Mal meditiert. Ich spüre die Spiritualität als neue Kraft in mir wachsen, die mich nie mehr verlassen wird. Nach vier Jahren Yoga bin ich jetzt auf einem Weg, der mir meinen Platz und meinen Sinn im großen Ganzen weist, mich loslassen und annehmen lässt. Ich bin dankbar.

APRIL 2010: Vor dem Atomic Bomb Dome stehend, versuche ich ansatzweise zu verstehen, warum an diesem 6. August 1945 in Hiroshima die Welt unterging.

APRIL 2010: Das Theaterpädagogik-Abschluss-Kolloquium: Alle Diplomanden im Kreis um mich herum, meine Prüfer und ich lachen. Die erste Prüfung, bei der ich mich wohl fühle.

MAI 2010: Ich sitze auf dem Rücksitz, meine Eltern vorne. Krampfartig schüttelt mich mein Weinen. Ich weiss nicht, ob es Trauer ist oder einfach nur die Erschöpfung. Ich weiss nur, dass ich nie wieder an diesen Ort zurückkehren kann.

MAI 2010: Ich knie in einer Moschee in Kuala Lumpur und bete. In diesem Moment weiss ich ganz genau, was ich mit meinem Leben machen möchte.

MAI 2010: Nico Muhly, Valgeir Sigurðsson, Ben Frost und Sam Amidon spielen ein Konzert im Staatstheater Reykjavik.

MAI 2010: Ich werde von Bettina geliebt.

MAI 2010: Wir laufen über die Chinesische Mauer.

MAI 2010: Die Entscheidung fällt: Ich breche alle Zelte und mein erstes Studium ab, fahre aber nicht direkt nach Hause, sondern mache einen der besten Zwischenstopps meines Lebens bei meinem seitdem festen Freund.

MAI 2010: Ich bekomme ein grossartiges Angebot und ziehe in die Schweiz. Ich bin glücklich.

MAI 2010: An einem wunderschönen Ort in Kalifornien hüte ich Ziegen und melke sie zweimal täglich, um Ziegencamembert herzustellen.

MAI 2010: Wir sind auf journalistischer Austauschreise in Russland. Ich treffe Mascha und bin verzaubert.

MAI 2010: Mein Vater stirbt nach langer Zeit im Krankenhaus. Wir waren alle darauf vorbereitet. Doch erst jetzt bricht der Schmerz darüber in mir auf. Ich weine, kann nicht aufhören, nehme ihn im Wissen, dass ich ihn nicht wiedersehen und nicht mehr berühren kann, in den Arm und geniesse diesen Moment.

JUNI 2010: Ich stehe morgens um fünf an der Reuss und telefoniere nach einer unglaublich langen Tanznacht mit Tim – ich weiss nicht warum, aber ich steige bis zum Bauch in den Fluss und sehe keine Gefahr.

JUNI 2010: Sebastian verlässt mich wegen einer anderen. Mein Glaube an die Liebe wird in seinen Grundfesten erschüttert.

JUNI 2010: Ich fahre einen geliehenen Transporter in den Graben. Alles gerät durcheinander.

JUNI 2010: Ich mache einen Fallschirmsprung. Diese Erfahrung verändert mein Leben. Ich beginne, vieles neu zu ordnen.

JUNI 2010: Ich laufe zwischen diesen vielen vielen Menschen, welche in alle Richtungen treiben. Die Umgebung wie das Land der Träume. Die Bässe so ohrenbetäubend laut, wie ich sie von nun an am liebsten hatte.

JUNI 2010: Das Kind ist blau und bewegt sich nicht – ich gebe es zurück. Die Zeit steht still. – Das Kind lebt doch!

JUNI 2010: In einer Weiterbildung erhalte ich Beratung ohne Ratschlag: Bisher Loses wird neu vernetzt. Ein beglückender Moment.

JULI 2010: Ich verkaufe mein Elternhaus. Ich übe mich als Immobilienmaklerin und ich glaube, ich habe Talent dazu. Könnte das ein neuer Beruf werden?

JULI 2010: Ich habe die Aufnahmeprüfung für das Studium Soziokulturelle Animation bestanden.

JULI 2010: Ich dusche in einer verglasten Kabine mitten in unserem winzigen zweieinhalb–Bettzimmer. Léonie putzt sich direkt daneben die Zähne und schnauft wie ein Walross. Florence sitzt auf dem Bett und macht ein mentales Foto.

JULI 2010: Ich mache die erste von diversen Porträt-Serien von meiner Schwester und finde in ihr eine Muse.

JULI 2010: Ein Sommerabend, grillieren mit Freunden. Am Schluss sind wir noch zu zweit. Wir reden, bis die Sonne aufgeht, und den ganzen Tag danach. Wie schön, mit einem Menschen auf der genau gleichen Welle zu reiten!

JULI 2010: Ich bin verliebt.

AUGUST 2010: Ich suche mit meiner ganzen Familie meine Grossmutter, die wieder einen Depressionsschub hat und seit zwölf Stunden verschwunden ist. Um zwei Uhr morgens sehe ich meine Mutter so sehr weinen wie noch nie. Ich gehe nochmals raus und finde meine Grossmutter in der Autogarage, wo wir schon sechs Mal gewesen waren, in ihrem Kofferraum, sie wollte ersticken. Und ich glaube an Schicksal.

AUGUST 2010: Chloe wird geboren, ich habe eine Nichte – und verlasse London. Wanderjahr.

AUGUST 2010: Ich lasse mein Gepäck auf der Strasse liegen, springe zum Laden zurück, küsse die inspirierendste Frau auf der ganzen Welt, springe zurück und verlasse mit dem Schiff die Insel.

AUGUST 2010: Beim Apéro nach den Sommerferien begrüsse ich die Schulpflege und die Mitarbeitenden der Schule. Erstmals sind alle Stufen der Volksschule unter einem Dach versammelt. Ich freue mich und hoffe, dieser Schule einen Rahmen geben zu können, der einlädt, ermutigt, inspiriert.

AUGUST 2010: Durch Zufall werde ich Regieassistentin. Die Arbeit und ein Mensch, den ich dabei kennenlerne, verändern mein Leben.

AUGUST 2010: Ich ziehe von zu Hause aus, verlasse Bern und beginne in Basel mein Studium der Kunstgeschichte. Alles fühlt sich aufregend an.

AUGUST 2010: Nach abermaligem Psychiatrie-Aufenthalt schickt mich die IV in eine Abklärungsmassnahme. Ich mache mehrere Tests und habe es danach schwarz auf weiss: Dass ich im Grunde genommen clever bin. Aber ich habe das Gefühl, dass mir die 130 IQ-Punkte im Alltag hinderlich sind.

AUGUST 2010: Basel. Jennys erster Schrei nach einem Notfall-Kaiserschnitt, laut, empört, überwältigend. Gleichzeitig Freds Satz: «Es ist kaum zu fassen, wir haben ein Kind».

AUGUST 2010: Meine erste Arbeitsstelle in meinem Beruf, ich verdiene Geld, werde bezahlt. In einer Sitzung werde ich vom Opernchef gefragt was ich hier mache, Praktikanten dürften nicht zur Sitzung. Ich stelle mich als Dramaturg vor, er stutzt.

AUGUST 2010: Ich beginne das Regiestudium an der Zürcher Hochschule der Künste.

AUGUST 2010: Mein Sohn Maurice wird geboren. Sein zweiter Name ist der meines Freundes.

AUGUST 2010: Ich fliege mit Freunden nach Los Angeles an ein Musikcamp.

AUGUST 2010: Nach jahrelanger Recherche bekomme ich Post eines Einwohnermeldeamtes, meine leibliche Mutter heisse so und so und lebe da und da. Ich schreibe ihr einen Brief. Zwei Tage später ruft sie an und sagt, sie habe mich vermisst.

AUGUST 2010: Ich erleide einen Schlaganfall. Seither habe ich grosse Mühe mit dem Laufen, aber mit dem Rollator geht es.

AUGUST 2010: Der Himmel könnte von Botticelli sein. Frisch verheiratet treten wir aus dem Turm. Ich spüre seinen Händedruck.

AUGUST 2010: Das erste Mal stehe ich in dem grossen Hörsaal. Unter mir hunderte von Sitzplätzen. Ich frage ein Mädchen mit langen braunen Locken und einem Tattoo auf dem Rücken, ob neben ihr noch frei ist.

AUGUST 2010: Ich betrete die Ankunftshalle am Flughafen in Barcelona und erblicke Jan. Er hält ein Schild mit meinem Namen in der Hand und winkt mir zu. Ich bin überglücklich.

SEPTEMBER 2010: Meine Tochter kommt gesund zur Welt. Der schönste Tag meines Lebens (neben der Geburt des Sohnes, versteht sich). Und ein zweites Mal haben wir das Riesenglück, ein gesundes Baby in den Händen halten zu dürfen. Dieses Glück kann man nicht beschreiben.

SEPTEMBER 2010: Ich sehe einige Zuschauer im Zuschauerraum weinen. Auf der Bühne weint niemand. So soll es sein.

SEPTEMBER 2010: Übersiedlung nach Frankfurt in eine Wohngemeinschaft mit unserem verwitweten Sohn und zwei Enkelkindern.

SEPTEMBER 2010: Meine Mutter und ich wechseln uns am Bett meiner Grossmutter ab und begleiten sie in den Tod.

SEPTEMBER 2010: Ich begebe mich wegen Depressionen und selbstverletzendem Verhalten in stationäre Therapie. Ich geniesse die Zeit dort voller Verständnis und Selbsterkenntnis.

SEPTEMBER 2010: Meiner Grossmutter geht es gerade wieder gut, da wird mein Vater nach der Trennung meiner Eltern krank. An der Uni begegnet man mir mit unnötigem Mitleid, weil ich als einzige Absolventin keinen Festvertrag habe. Ich versuche, über allem zu stehen und mache alles was mir nicht gut tut, bis ich eine Gürtelrose bekomme. Ich fahre ans Meer. Als ich wieder gesund bin, weiss ich, dass ich unbedingt aus Frankfurt wegziehen muss und dass ich Segeln und Kitesurfen lernen will.

SEPTEMBER 2010: Zum 600-Jahre-Adelboden-Jubiläum predige ich vor 2500 Menschen im Festzelt. Alle christlichen Gemeinschaften von Adelboden sind dabei. Es ist meine letzte Predigt – mein Schwanengesang.

SEPTEMBER 2010: Es reicht nicht mehr fürs Spital, Lenz kommt zuhause im Bett zur Welt.

SEPTEMBER 2010: Meine Schwester hat eine Hirnblutung und ich verliere vollends den Draht zu ihr. Ich bin traurig und wütend zugleich. Wir standen uns mal so nah und jetzt ist nichts mehr davon da.

SEPTEMBER 2010: Die Produktion «Die Schweizermacher» in der Maaghalle in Zürich bringt mich fast um den letzten Nerv. Fürs Theater gehe ich über meine eigene Leiche. Ich muss etwas ändern.

SEPTEMBER 2010: Ich lande in Birmingham und atme tief durch.

OKTOBER 2010: Nach zehn Jahren Beziehung trennt sich meine grosse Liebe von mir und ich denke an den Weltuntergang. Tatsächlich wird es meine grosse Befreiung und ich finde endlich Frieden und Freude am Leben.

OKTOBER 2010: Bei der Geburt von Sol habe ich vor allem Angst. Um sie, um mich, um unsere Familie. Als wir zu dritt vom Spital nach Hause fahren, bin ich der glücklichste Mensch der Welt.

OKTOBER 2010: Karin kehrt aus England zurück.

OKTOBER 2010: Ich sitze mit Ross im Garten seiner Mutter in Knysna. Wir reden und lachen. Er hat Krebs. Ich weiss, dass er streben wird.

OKTOBER 2010: Tod meines Mannes. Ich habe ihn noch lange nicht verkraftet, aber ich halte mich weiter an meine Lebensziele, die mir helfen, mich ganz langsam an das Leben allein zu gewöhnen und es trotz der grossen Trauer als sinnvoll zu empfinden.

OKTOBER 2010: Ich mache meinen Bootsführerschein.

OKTOBER 2010: Endlich tanzt sie. Die Céline. Eine Herzensangelegenheit läuft vom Stapel. I did it.

OKTOBER 2010: Ich starte meine Zitate- und Textsammlung, die inzwischen auf 750 Word-Seiten angewachsen ist.

OKTOBER 2010: Ich verlasse das Geburtshaus, gehe durch den Regen, dränge mich in einen vollen Bus. Das Leben nimmt seinen gewohnten Lauf, für mich ist alles anders: Gabriel ist da.

NOVEMBER 2010: Ich beginne eine Ausbildung als systemische Beraterin und Familientherapeutin, und das verändert mein berufliches und privates Leben Stück für Stück.

NOVEMBER 2010: Ich werde zur Geliebten. Das Schweigen zerreisst mich fast. Ich schwöre mir, nie wieder meine Liebe zu verleugnen.

NOVEMBER 2010: Er steht vor mir. Ich habe mir extra flache Schuhe angezogen, um nicht grösser zu sein als er. Ich will ihn nicht berühren. Das, was ich mir seit Jahren gewünscht habe: Es ist nichts.

NOVEMBER 2010: Ich sitze mit M., M. und M. im «Weissen Kreuz». Ich habe Freunde gefunden.

NOVEMBER 2010: Ich verlasse sie.

NOVEMBER 2010: Meine Frauenärztin eröffnet mir, dass ich, sollte ich mich nicht behandeln lassen, vermutlich unfruchtbar werde. Die Diagnose erklärt rückschliessend, woher die erlebten Veränderungen in mir kamen. Erschütternd stellt sich ein Grübeln über Wertlosigkeit ein – ich merke, wie unaufgeklärt man plötzlich wird, wenn die Entscheidungsfreiheit bezüglich des Kinderkriegens entzogen sein könnte.

NOVEMBER 2010: Mascha ist auf journalistischer Austauschreise in Köln und wie es aussieht, sind wir beide verzaubert.

NOVEMBER 2010: Meine Finger haben sich mitlerweile aufgewärmt, denn die vielen tanzenden Leute haben den Villa-Keller erhitzt. Ich sehe in der ersten Reihe meine Freunde mir zulächeln. Die Aufregung und die Angst, etwas falsch zu spielen sind verflogen.

NOVEMBER 2010: Mutter atmet über Stunden und ich mit ihr, als wär sie eine Gebärende und ich der werdende Vater. Vater ist tot und ich längst geboren. Wir atmen ein und aus, dann bleibt es aus, ihr Ein und ich atme allein.

NOVEMBER 2010: Operation.

NOVEMBER 2010: Sie sagt: «Du merkst es aber auch nicht oder?» – Ich frage: «Was?» – Sie sagt: «Dass ich dich attraktiv finde!» – Mein Herz explodiert durch meinen Kopf.

NOVEMBER 2010: Ich habe noch keine Lust, zu studieren, und bereise acht Monate lang Neuseeland, Argentinien, Bolivien, Nicaragua und die USA.

DEZEMBER 2010: Nachtessen am Heiligabend mit Nadine im Museum, umgeben von echten Cézannes, Renoirs, Monets, Pissarros und anderen.

DEZEMBER 2010: Wegen eines geplatzten Blinddarms liege ich zwei Wochen im Spital. Ich entdecke gleichzeitig eine mir vorher unbekannte Stärke und Schwäche in mir.

DEZEMBER 2010: Konrad ist so enttäuscht von mir, dass er nicht mehr mit mir reden will.

DEZEMBER 2010: Ich treffe meine grosse Jugendliebe wieder. Endlich werden wir ein Paar, obwohl er in München lebt und ich in Frankfurt. Wir ziehen zusammen und sind jetzt selbstverständlich schwanger und freuen uns auf unser erstes gemeinsames Kind.

DEZEMBER 2010: Fahrt auf dem Amazonas, ich liege fast vier Tage lang in meiner Hängematte und bin einfach nur dankbar und zufrieden, unendlich zufrieden.

DEZEMBER 2010: Frühpensionierung. Es ist, als ob man durch eine Tür gehen darf, aber nicht mehr zurück kann. Ich habe mehr Zeit fürs Radieren und Malen, brauche aber auch mehr Zeit für alles. Und ich muss mich zu Hause und in der Partnerschaft neu einrichten. Unsere mehr als vierzig Jahre währende Liebe verändert sich und wird stärker.

DEZEMBER 2010: Wiedersehen mit Magnus auf der Plaza Catalunya. Zehn tolle Tage im frühlingshaften Barcelona liegen vor uns.

DEZEMBER 2010: Windpocken mit 38. Ich sehe aus wie eine Leprakranke und dämmere im Fieberwahn vor mich hin, aber meine Laune ist erstaunlich gut. Das erste Mal fühle ich, dass mein Sohn mich wirklich mag.

DEZEMBER 2010: Ich ziehe von zu Hause aus und gehe für mein Produktdesign-Studium nach Luzern. Meine Freiheit wächst, ich organisiere von nun an meinen Alltag und mein Leben ganz alleine.

DEZEMBER 2010: Ich treffe zufällig meine jetzige Lebenspartnerin bei einem Ambrosetti-Konzert im Bird's Eye in Basel.

DEZEMBER 2010: Ich ziehe nach Europa um, es ist Winter und es gibt endlich Schnee in meinem Leben.