2006

JANUAR 2006: Ich verkaufe das Haus meiner Mutter.

JANUAR 2006: Dortmund. Ein befreundeter Journalist erklärt mir seine Vorstellung von Heimat: in sich drin oder nirgends und das sei ein Zitat.

JANUAR 2006: Ich habe mein Doktoratszeugnis ausgehändigt bekommen und meine erste Stelle als Dramaturgin am Theater angenommen. Erstmals weiss ich nicht so genau was ich will in meinem Leben.

JANUAR 2006: Ich schlafe erstmals neben Simon ein.

JANUAR 2006: Bei Proben mit Alvis Hermanis am Schauspielhaus Zürich lernen wir argentinischen Tango – eine Sucht beginnt.

JANUAR 2006: Ich beginne eine siebenwöchige Therapie in einer psychosomatischen Klinik.

FEBRUAR 2006: Jonas besucht mich im Skilager. Meine Freundin meint, dieser Besuch sei wegweisend für mein Leben.

FEBRUAR 2006: Studium in Estland. Ich wohne unter extremen Umständen und friere ständig. Ich bin allein und lese mehr als jemals zuvor. Ich trinke auch mehr als jemals zuvor.

FEBRUAR 2006: Ich beziehe nach über zwanzig Jahren wieder eine Wohnung und verlasse die Lebens- und Arbeitsgemeinschaft des Zirkus.

FEBRUAR 2006: Kurz vor meinem Abitur verfolgt mich ein Mann im Auto.

FEBRUAR 2006: Ich trage sein Bild immer bei mir, streiche sanft mit dem Finger darüber und stelle mir vor ihn tatsächlich zu berühren. Mir wird ganz warm, wenn ich seinen Namen höre. Sieht er mich an, werde ich rot und senke den Blick. Leider ist er nicht in mich verliebt.

FEBRUAR 2006: Ich und mein Freund gehen auf einen Kostümball. Ich als Wonderwoman und er als der Joker. Danach schlafe ich das erste Mal mit ihm.

FEBRUAR 2006: Ich muss meinem Leben entfliehen und gehe für einige Monate ins Ausland, um mich neu zu erfinden.

MÄRZ 2006: Wir haben uns schon einige Male gesehen, kamen uns näher. Wir entscheiden uns jedoch im virtuellen Chat für die Beziehung. Meine erste Freundin.

MÄRZ 2006: Mein Freund will keine Kinder. Zumindest nicht in den nächsten fünf Jahren. Er weigert sich, weiter voraus zu denken. Ich verlasse ihn nicht.

MÄRZ 2006: Auf dem Weg vom höchsten Pass unserer Reise nach Lhasa halten wir in einer Einöde und spazieren. Ich habe ein Missverständnis mit Catherine wegen einer Nichtigkeit und fühle mich komplett orientierungslos. Stunden später lese ich in Lhasa die Email aus Oxford.

MÄRZ 2006: Nach einem Sturz aus drei Meter Höhe auf den Rücken, bleibe ich mit einer Wirbelverletzung liegen. Ich kann nicht tiefer fallen, als in Gottes Hände, ist mein erster Gedanke.

MÄRZ 2006: Das Internat, für das ich mich beworben habe und für das ich brenne, schickt mir eine Zusage.

MÄRZ 2006: Alleine in Australien: Ich fühle mich verloren.

APRIL 2006: Ich bewerbe mich zum ersten Mal an einer Regieschule, werde im Juni zur Aufnahmeprüfung eingeladen und bin zwei Tage später aufgenommen.

APRIL 2006: Mitten in meinen belanglosen Satz sagt sie: «Was machen wir eigentlich hier?» Dann verlassen wir die Kneipe. Sie sagt: «Ich habe eine Beziehung.» Ich sage: «Ich auch.» Wir küssen uns und in meinem Kopf explodiert ein gigantisches Feuerwerk.

APRIL 2006: Meine Cousine stirbt in einer Lawine und ich sitze im Bunker ohne Natelempfang.

APRIL 2006: Umzug nach Basel, wo ich eine tolle neue Stadt kennenlernen darf und mich bald zu Hause fühle.

APRIL 2006: Mein kleiner Bruder fällt auf den Kopf und muss ins Spital. Meine Oma vergisst in der Aufregung die Nummer meiner Mutter, doch ich rette sie. Es ist die einzige Nummer, die ich auswendig kann.

APRIL 2006: Andreas nimmt sich unerwartet das Leben. Ich fühle mich so alleine wie nie zuvor.

APRIL 2006: Yuri stirbt, kommt gar nicht richtig zur Welt. Grosse Trauer.

MAI 2006: Basel führt, alle Hoffnung schwindet, in der 93. Minute fällt nochmals ein Tor für den FCZ. Schweizermeister! Die Flachpassbar ist am Zerbersten.

MAI 2006: Ich nehme ein Jobangebot der Salzburger Festspiele an – in persönlicher Hinsicht eine völlige Fehlentscheidung.

MAI 2006: Meine Mutter überlebt eine Notfalloperation der Aorta mit nur 39 Jahren und wird wieder gesund.

JUNI 2006: Nach einer schweren Lebenskrise trenne ich mich von meiner Frau.

JUNI 2006: Ich werde ruhig gestellt und in eine psychiatrische Klinik gebracht, wo ich gefesselt aufwache. Diagnose: Schizophrenie.

JUNI 2006: Nach einer weiteren Absage einer Kunstschule ist meine Enttäuschung riesig. Ich habe einen Wutanfall und bringe mein Zimmer in ein Chaos. Meine Mutter stürzt erschrocken herein und ich beruhige mich wieder.

JUNI 2006: Die Freunde aus der Stadt sind gekommen. Wir sind den ganzen Abend im kleinen Raum und hören Musik, rappen, rauchen viel, schauen Filme. Morgens um fünf Uhr gehen wir nach Hause und kicken Steine vor uns her.

JUNI 2006: Ich bin in der Stadt an einer Party. Ich habe viel getrunken und tanze gerne. Luna ist auch da, sie tanzt wie eine Göttin. Ich stehe auf sie. Später schreibe ich ihr einen Brief. Ich bin unglücklich verliebt.

JUNI 2006: Interrail-Reise durch Europa nach Abschluss des ersten Studienjahres.

JULI 2006: Meine Mutter schmeisst mich und meinen Bruder aus der Wohnung. Ich bin stinksauer und habe seither fast keinen Kontakt zu ihr. Trotzdem: Etwas besseres hätte mir nicht passieren können.

JULI 2006: Keiner weiss, dass es mein letzter Tag ist, keiner verabschiedet sich von mir oder hat mir zum Abschied etwas vorbereitet. Ich atme den Geruch vom Gebäude so intensiv ein, wie es geht und gehe ganz allein die Treppen herunter.

JULI 2006: Auf dem Gang einer geschlossenen Station begegne ich erstmals Milena. Ihr Blick ist schockierend und lügt nicht: Auch sie ist schizophren.

JULI 2006: In Accra kommt mein erstes Grosskind zur Welt.

JULI 2006: Mein Vater sagt mir zum ersten Mal, dass er stolz auf mich ist. Eine Last fällt von mir ab.

JULI 2006: Ich arbeite nicht. Ich schreibe.

JULI 2006: Sprachaufenthalt in England, mein erster Auslandsufenthalt alleine bei einer Host Family. Wirklich wohl fühl ich mich nicht. Magenprobleme starten und ich lande mit einer Entzündung im Spital.

JULI 2006: Zusammen mit Martina, Richard, Eva, Hanna und Skip David überqueren wir per Segelboot den Ärmelkanal und laufen mit stürmischen Winden in Cherbourg ein.

AUGUST 2006: Unser geliebter Labrador-Bernhardiner-Mischling stirbt im Alter von 16 Jahren. Ich sehe meine Mutter das erste Mal weinen.

AUGUST 2006: Ich sitze im Kanu während meiner Arbeit als Volunteer in Ecuadors Amazonas.

AUGUST 2006: Mein Partysommer – noch nie so viel getanzt, gelacht, getrunken und geliebt.

AUGUST 2006: Ich hole die zweijährige Emma ab, um mit ihr einkaufen zu gehen. Die Art wie sie die Sache, mit der sie sich gerade beschäftigt, fallen lässt, Tschüss zu ihrer Mutter sagt und mir die Hand gibt, ist für mich eine sehr schöne Geste der Zuneigung.

AUGUST 2006: Ich habe einen Blinddarmdurchbruch in Neuseeland und bekomme zwei Wochen Morphium. Mein Vater holt mich aus Sorge ab und wir fliegen ohne offizielle ärztliche Erlaubnis zurück nach Deutschland.

AUGUST 2006: Ich stehe beim Veloparkplatz und rufe Rafael an. Mein Bauch zieht sich zusammen, als ich seine Stimme höre. Ich merke, dass ich etwas für ihn empfinde, das mir niemand wegnehmen kann.

AUGUST 2006: Bei meiner Kur auf der Insel Föhr lerne ich QiGong kennen. Die fliessenden Bewegungen machen mich glücklich und bringen mich wieder ins Gleichgewicht. Ich beschliesse, ein zweijähriges Studium aufzunehmen und auch in Beijing Erfahrungen in QiGong zu sammeln.

AUGUST 2006: Ich bin zwölf Jahre alt und reise zum ersten Mal ganz alleine mit dem Flugzeug. Ich besuche meine Freundin Anna für zwei Wochen in Marokko und geniesse jeden einzelnen warmen Tag.

AUGUST 2006: Es ist Nacht und ich höre durch das offene Fenster die Grillen zirpen. Der Kugelschreiber fährt pausenlos über das Papier und füllt es mit meinen Gedanken. Erregt lese ich die ersten Zeilen noch mal und klopfe mir selbst auf die Schulter: Der Grundstein meines ersten Romans ist gelegt.

SEPTEMBER 2006: Reise mit meinem Mann nach Samarkand, ein langgehegter Traum, als Geschenk zum 60. Geburtstag.

SEPTEMBER 2006: Mit Mara am Ziel unserer Träume.

SEPTEMBER 2006: Ich frage zwei Mädchen aus der Parallelklasse, ob sie in einem gemeinsamen Fach neben mir sitzen wollen. Die eine wird meine beste Freundin, Verbündete, Retterin.

SEPTEMBER 2006: Eine neue Erkenntnis für mich: Die bewusste Entdeckung des vollumfänglich tätigen Lebens ohne operative berufliche Pflichtenroutine.

SEPTEMBER 2006: Ich halte meine Mama im Arm. Endlich darf sie gehen und Papa und Paul wieder sehen.

SEPTEMBER 2006: Ich möchte einfach nur davonrennen und ziehe nach Afrika.

SEPTEMBER 2006: Ich halte Jasper im Arm.

SEPTEMBER 2006: Ursula holt Silber an der Senioren / Ladies Europameisterschaft im Pool-Billard, 9er Ball in Mikolov, Polen.

SEPTEMBER 2006: Ich lerne Maria kennen. Ich liebe sie bis heute, obwohl wir kein Paar mehr sind.

SEPTEMBER 2006: In meinen Ferien arbeite ich auf Usedom und küsse zum ersten Mal eine Frau. Ich verliebe mich unsterblich. Aber wir trennen uns, bevor überhaupt etwas entstehen kann. Ich denke das erste Mal darüber nach, in meinem Leben etwas zu ändern, um glücklich zu werden.

OKTOBER 2006: In einem russischen mafia-ähnlichen Restaurant in New York, in dem ich abends arbeite, lerne ich J. Panetta, meine wichtigste Mentorin, kennen. Sie erweitert meine Sicht auf die darstellenden Künste und definiert grundlegend meine Annäherung an diese Tanz-/Theaterwelt.

OKTOBER 2006: Mein Mitbewohner und ich geben unser erstes Konzert in der Kellerbar unserer Nachbarn und es findet Anklang.

OKTOBER 2006: Obwohl ich knappe fünf Jahre unter dem gesetzten Alterslimit liege, bekomme ich den Job als Hundetrainerin.

OKTOBER 2006: Dernière des Jugendmusicals in der Ostschweiz: Zum letzten Mal dieses wahnsinnige Gefühl, auf der Bühne zu stehen und mit siebzig tollen Leuten zu singen und zu tanzen.

OKTOBER 2006: Ich halte meine Göttibueb im Arm und habe das Gefühl, dass er ganz und gar unzerbrechlich ist.

NOVEMBER 2006: An einer letzten Sitzung mit der Schulleiterin, der Personalverantwortlichen, den beiden Rechtsanwälten und mir lügt die Rektorin ganz unverblümt und offensichtlich. Sie bekommt dabei ganz ockergelbe Augen, die Iris franst an den Rändern aus, comicartig. Ich denke, gleich verliert sie den Verstand. Man sagt mir, es stehe Aussage gegen Aussage, und die Aussage der Rektorin habe mehr Gewicht. Ich willige in meine vorzeitige Entlassung ein. Ich verlasse das Büro. Mitten auf der Bahnhofstrasse packt mich eine so grosse Müdigkeit, dass ich mich in einem Warenhaus auf ein Sofa setzen muss.

NOVEMBER 2006: Mit vier Männern einer Performancegruppe und dem künstlerischen Leiter eines Festivals sitze ich nach einer langen Nacht vor dem Golden Pudel Club in Hamburg. Der Himmel wird langsam hell, ich blicke auf den Hafen und denke mir: So lustig wie heute abend habe ich mir das Berufsleben nie vorgestellt.

NOVEMBER 2006: Ich stehe an den gewaltigen Iguazu-Wasserfällen und sage zu meiner Tochter: «Genau wie das Leben, zuerst verläuft es als ruhiger Strom. Plötzlich bricht es unerwartet ab und stürzt in die Tiefe...» In diesem Moment ruft mein Mann an: «Ich muss mit dir reden, ich habe mich in eine junge Frau verliebt.»

NOVEMBER 2006: Ich lerne Jürg kennen, der sich mir als Marc vorstellt.

DEZEMBER 2006: Ich werde Götti der Tochter meines guten Freundes. Meine zukünftige Frau ist Gotte.

DEZEMBER 2006: Um 15 Uhr beginnt meine Schicht in der Bar, um 2 Uhr ist sie zu Ende, dann wird gekokst und danach gelacht, gefeiert, getanzt.

DEZEMBER 2006: Ross kommt zu Besuch. Die Emotionalität eines Jahres geballt in einer Woche. Er nimmt mich nicht mit. Ich bleibe beim Pianisten.

DEZEMBER 2006: Mein Bruder ist todkrank, seine sehr junge Lebensgefährtin ist auch sehr krank. Wir wollen alle nach Wiesbaden zu meiner Mutter fahren, die im Sterben liegt. Ich komme zu spät, erfahre nur noch von der Krankenschwester, dass meine Mutter, die nie in die Kirche ging, am Abend vor ihrem Tod mit ihrer Zimmernachbarin laut das Lied «Grosser Gott, wir loben Dich» gesungen hat. Dieses Lied berührt uns dann alle sehr, als es bei der Trauerfeier gespielt wird. Monate später stirbt die Lebensgefährtin meines Bruders, ein Jahr später mein Bruder.