2003

JANUAR 2003: Mein Vater stirbt im Katharinenhospital in Stuttgart. Ich habe das Gefühl, die vergangenen acht Monate lägen wie ein riesiger Berg hinter mir.

JANUAR 2003: Wir haben eine Liste mit Vor- und Nachteilen erstellt. Die Nachteile überwiegen, und doch wollen wir Kinder.

JANUAR 2003: Ich sitze mit Levis auf einem Berg, vor uns ein unbefahrener Pulverschnee-Hang, die Snowboards an den Füssen. Sonnenuntergang. Wir schwören uns ewige Freundschaft.

FEBRUAR 2003: Meine Klassenkameraden machen mich zum «Klassenkönig». Ich verteile Posten. Ich begegne meiner Umwelt selbstbewusst und sicher.

FEBRUAR 2003: Es ist die erste Woche in Costa Rica. Wir treffen uns in der hellblauen Küche von Sarita. Es gibt Café und Tortilla, es wird getanzt und ich lerne alle kennen, ausser Max — ihn einen Tag später.

FEBRUAR 2003: Huch: Coming-Out.

FEBRUAR 2003: Ich bin in einem Skilager. Jemand macht Dinge mit mir, welche ich nicht möchte. Nicht zum letzten Mal. Ich darf es niemandem sagen.

FEBRUAR 2003: Ich kündige spontan meine erste Assistentenstelle in Hannover, ohne zu wissen, ob die Bewerbung in Zürich klappt.

FEBRUAR 2003: In der Sahara lerne ich eine Frau kennen und wir lieben uns bei Sonnenuntergang mitten in den Sanddünen. Ein Bann ist gebrochen.

FEBRUAR 2003: Zu Fuss überschreite ich legal die Grenze von Tijuana, Mexiko, nach San Diego, USA.

FEBRUAR 2003: Ich werde mit 16 Gotte eines Jungen. Als ich ihn das erste Mal in den Armen halte, fühle ich mich bei aller Freude ziemlich überfordert.

MÄRZ 2003: Ich sehe den Beginn des Irak-Krieges am Fernsehen. Dabei habe ich das Gefühl, gerade Opfer einer Gruppenvergewaltigung geworden zu sein.

MÄRZ 2003: Ich protestiere mit anderen gegen den Irakkrieg und George W. Bush.

MÄRZ 2003: Meine erste Liebe endet in einer Enttäuschung. Die Welt ist durcheinander.

MÄRZ 2003: Mein Mann und ich stehen am Schalter der tschechischen Botschaft in Bern. Ich beantrage meine Staatsbürgerschaft zurück. Meine Kinder werden ebenfalls Tschechen, wir sind jetzt Doppelbürger. Ich weine.

MÄRZ 2003: Nach zehn Familienjahren finde ich eine tolle Arbeitsstelle. Das macht mich stolz, die neue Arbeit glücklich. Beide Kinder sind schon in der Schule. Ich fühle mich als emanzipierte Mutter. Es ist schön, wieder einen Schritt nach aussen zu wagen.

MÄRZ 2003: Der Arzt steht mir gegenüber und teilt mir mit, dass ich eine schwerwiegende Erberkrankung habe, die Hirnblutungen verursachen kann. Ich erfahre ausserdem, dass ich diese Erkrankung an beide Kinder vererbt habe. Mein Leben wird ab jetzt ganz anders sein. Unser Leben wird ab jetzt ganz anders sein. Ich kann auf einmal nicht mehr richtig atmen.

MÄRZ 2003: Ich sitze alleine im Flugzeug von Ghana nach Zürich. Geplant waren drei Monate per Landrover durch Afrika und danach Einzug in die gemeinsame Wohnung. Zwei katastrophale Monate hab ich durchgehalten. Bin nervlich am Ende – und wieder Single!

MÄRZ 2003: Es ist spät abends und es klingelt an der Tür. Meine Mutter schreckt hoch und sagt: «Opa ist tot.» Als ich die Tür öffne, steht meine Tante davor – Opa ist gestorben. Tränen fliessen lautlos meine Wange hinab und ich weiss, dass der letzte rettende Anker in meinem Leben mich verlassen hat.

APRIL 2003: Meine beste Freundin eröffnet mir, dass sie die Schulleitung des Gymnasiums, das wir ab dem Sommer besuchen werden, gebeten hat, sie mit ihrer Brieffreundin in eine Klasse einzuteilen – nicht mit mir.

APRIL 2003: Wir haben riesen Mist gebaut. Ich und meine beste Freundin müssen vor den Klassenrat. So peinlich, ich möchte am liebsten im Erdboden versinken.

APRIL 2003: Finisherin im 1. Züri Marathon in 4 Std. 27 Min. und 46 Sek.

APRIL 2003: Endlich lerne ich den von meiner Schwester und Freundinnen umschwärmten Jonas kennen. Er trifft uns auf dem Parkplatz in Biel.

MAI 2003: Ich schreibe auf eine Seite meines ersten Tagebuchs: «Ich habe Angst lesbisch zu werden». Da bin ich 14.

MAI 2003: Während meines Abenddienstes im Theater Neumarkt sitze ich im Dramaturgie-Büro, schaue auf eine Web-Cam von St. Petersburg und telefoniere mit Sasha. Sie erzählt mir, dass sie im Sommer ans Schwarze Meer fahren wird.

MAI 2003: Ich treffe eine Entscheidung, ohne dabei ein einziges Mal meinen Kopf zu benutzen und jetzt laufe ich jede Nacht in Dresden von der Probebühne zum Bahnhof und erkenne, dass jedes Wort, das man sprechen kann, eine eigene Farbe hat und einen Geschmack.

MAI 2003: Bei der letzten Aufführung der «Penthesilea», wo ich die Amazonenkönigin spiele, habe ich in der intensiven Endszene einen Versprecher. Enttäuscht weinend verlasse ich die Bühne und lasse den toten Achilles hinter mir im Kunstblut liegen.

MAI 2003: Ich erwache wieder im Spital und sehe meine Mutter mit Kirschen neben dem Bett sitzen. Bin ich nun im Himmel?

JUNI 2003: Ubaldo und ich küssen uns zum ersten Mal.

JUNI 2003: Ich werde an der Zürcher Hochschule der Künste als Student aufgenommen. Hätte ich ein Jahr später oder früher zu studieren begonnen, wäre mein Leben heute bis ins kleinste Detail ein völlig anderes.

JUNI 2003: Just zum Geburtstagsfest meiner Mutter muss ich erfahren, was ich schon ahnte. Nun bin ich eine gute Freundin los und muss mir überlegen, ob ich den Mann noch haben will.

JUNI 2003: Auszug aus dem Elternhaus. Ich ziehe zu einem jungen Pärchen und einer freundlichen Rottweilerdame.

JUNI 2003: An der Abschlusspräsentation des ersten Studienjahres verlese ich vor der Professur, den Gastkritikern und allen Mitstudenten statt einer Projektbeschreibung ein Gedicht – und rette mich damit ins zweite Jahr.

JULI 2003: Sommerstelle in Südfrankreich: Fremde Männer küssend und Pastis trinkend ziehe ich um die Häuser. Ich habe schreckliche Sehnsucht und denke, dass man Mut braucht, um diese Sehnsucht zu retten.

JULI 2003: Das erste Mal alleine im Ausland. Ich nehme in Porto das Abendmahl mit Portwein und möchte ihn am liebsten ausspucken – ich habe noch nie Wein getrunken.

JULI 2003: Wir bekommen unsere Tochter, heiraten heimlich und richten uns ein.

AUGUST 2003: Ich habe starke Schmerzen und nehme zwei der Tabletten, die mir der Arzt für den Notfall gegeben hat. Ich realisiere noch, dass etwas nicht stimmt – dann weiss ich nichts mehr.

AUGUST 2003: Ich entfliehe der elterlichen Welt und suche meine eigene.

AUGUST 2003: Holländisch Poker. Ich verliere gegen Martina eine Rückenmassage.

AUGUST 2003: Unser bester Freund ist in der Aare ertrunken. Wir Freunde haben uns alle in unserem kleinen «Rümli» versammelt. Es ist etwa Mittag. Einer sitzt am Boden und trinkt aus der Flasche Rotwein. Wir sind alle zerstört, aufgelöst und weinen.

AUGUST 2003: Wir ziehen nach London. Die fünf Musiker, Lea und ich. Freiheit. Wirklich.

AUGUST 2003: Jeanne stellt mich an der Après-Soleil-Bar David vor. Ich bin so verwirrt, dass ich fünf Minuten später gehe. Auf dem Heimweg erzähle ich meiner Schwester, dass ich nun endlich diesen schönen Fotografen kennen gelernt hätte.

AUGUST 2003: Ich vergehe vor Liebes- und Sonnenhitze: Hochzeit!

AUGUST 2003: Ich entscheide mich spontan, nach Wien zu gehen, um dort zu studieren. Drei Wochen nach diesem Entschluss ziehe ich um.

SEPTEMBER 2003: Ich werde selbständig und eröffne eine Praxis für Shiatsu in Basel.

SEPTEMBER 2003: Ich moderiere in einem Seemannskostüm das «Schultheater der Länder» in Lübeck.

SEPTEMBER 2003: Charivari in Basel: Matteo wählt mich aus siebzig Bewerbern als seine Regieassistentin aus.

OKTOBER 2003: Mein Vater erzählt uns, dass er heute auszieht und dass er sich von unserer Mutter trennt. Wir müssen ihm helfen, seine Sachen ins Auto zu packen.

OKTOBER 2003: Ich erfahre, dass meine Grosseltern das Kind ihrer minderjährigen Tochter als ihr eigenes Kind ausgegeben haben – mein Onkel ist eigentlich mein Cousin. Er selbst hat es als Erwachsener durch einen Zufall herausgefunden. Jetzt wird mir endlich klar, warum er den Kontakt zur Familie abgebrochen hat.

NOVEMBER 2003: Ich begleite meine Freundin durch eine lange Krankheit in ihren Tod. Ich bin froh und stolz, dass ich ihr zur Seite stehen durfte und konnte – und ich fühle eine grosse Trauer über ihren Verlust.

NOVEMBER 2003: Während der Arbeit in einem Supermarkt läuft er mir über den Weg, unsere Blicke treffen sich für einen kurzen Moment: Es fühlt sich an, als würde ich vom Blitz getroffen – diesen Mann muss ich unbedingt kennen lernen!

NOVEMBER 2003: Ich bekomme die notwendige Reha nur, wenn ich danach in die Psychiatrie gehe. Während des Psychiatrieaufenthalts bin ich total überfordert. Nie mehr dorthin!

NOVEMBER 2003: Ich bekomme meine erste feste Stelle.

NOVEMBER 2003: Kurz vor meinem ersten Ausstellungsprojekt verliebe ich mich und kenne kein Mass. Er auch nicht.

DEZEMBER 2003: Ich finde in einem Umzugskarton zufällig eine Kassette. Ich höre, wie ich als Kind Klavier spiele. Es folgt eine lang anhaltende Sinnkrise.

DEZEMBER 2003: Ich ziehe bei meinen Eltern aus und mit Philipp zusammen.

DEZEMBER 2003: Ich stehe am Grab von Magdalena und werde fast ohnmächtig.