2001

JANUAR 2001: Als ich in Bombay aus dem kühlen Flughafengebäude trete, rennt mich Sarah fast um. Wir nehmen uns in die Arme, lachen und drücken uns. Ich habe plötzlich eine Schwester.

JANUAR 2001: Meine Mutter stirbt in meinen Armen und denen meiner Schwestern.

JANUAR 2001: Ich gebe am Flughafen mein Gepäck nach Amerika auf. Ich werde dort ein Jahr verbringen und fühle mich zum ersten Mal in meinem Leben erwachsen.

JANUAR 2001: Mein kleiner Bruder wird geboren: Ich habe jemanden gewonnen, der zu mir aufschaut, der mich braucht, dem ich vieles beibringen kann.

JANUAR 2001: Mein Vater muss ins Gefängnis, da er die UBS betrogen hat. Die Angst vor der Strafe ist so gross, dass er in der gleichen Nacht versucht, sich das Leben zu nehmen.

JANUAR 2001: Die jüngste Tochter meines Mannes, die mit uns zusammenlebt, bedankt sich nur bei ihrem Vater für unser Geburtstagsgeschenk. Sie schaut mich nicht an.

JANUAR 2001: Ich rauche einen Joint mit einer Freundin im Park und wir betrachten liegend einen Baum in seiner vollen Präsenz. Ein Moment der ewigen Faszination.

JANUAR 2001: Ich sehe ein Stück von und mit Ruedi Häusermann in der Schiffbauhalle.

JANUAR 2001: Mein Onkel bringt sich um.

JANUAR 2001: Meine Tochter wird geboren. Sie war schon lange da, bevor ich sie in mir trug. Sie kommt schnell und friedlich und ist ein eigenes Wunder.

FEBRUAR 2001: Grossmutti aus Basel stirbt – der einzige Mensch, der in allen Dingen hundert Prozent zu mir hält und mich akzeptiert wie ich bin.

FEBRUAR 2001: Meine Tochter kommt nach zweiundvierzig Wochen durch einen Notfallkaiserschnitt auf die Welt. Ich fühle mich von allen Anwesenden im Stich gelassen.

MÄRZ 2001: Vado per un anno a Roma.

MÄRZ 2001: Um meiner Tochter eine glückliche Mutter zu sein, trenne ich mich von meinem ersten Ehemann. Mein kleiner Bruder räumt meine Sachen aus der Wohnung und beschützt mich dabei wie ein Bodyguard.

MÄRZ 2001: Ich verkaufe zum ersten Mal in meinem Leben ein Bild – an eine Frau, die alles dafür täte, dieses Bild zu besitzen. Plötzlich weiß ich, dass ein Leben, wie ich es mir vorstelle, theoretisch möglich ist.

MÄRZ 2001: Die Babysitterin unserer Mädels findet, ihre Lehrerin brauche im Schultheater Hilfe; ich marschiere auf die Probe, 15 mässig motivierte Jugendliche, die Theater eigentlich blöd finden. Nach einer halben Stunde lachen wir uns die Bäuche krumm. Ich bleibe 10 Jahre.

MÄRZ 2001: Ich verbringe eine Woche mit Bhante in Schangnau.

MÄRZ 2001: Ursula und ich eröffnen unsere erste gemeinsame Ausstellung. Sie stellt ihre schwarz-weiss-Fotos von Jazzmusiker/-innen aus, ich Bilder, die in den vergangenen drei Jahren in meinem Atelier in Cormoret entstanden sind. Viele Freundinnen und Freunde kommen zur Vernissage. Wir sind zufrieden und glücklich und geniessen einen wunderschönen Abend.

APRIL 2001: «Was für eine Stille, was für eine Weite, was für ein Sternenhimmel!» denke ich, während ich mit einem Dutzend anderer Pfadfinder, unseren Begleitern und genausoviel Dromedaren wie Menschen unterm freien Himmel der marrokanischen Sahara nächtige.

APRIL 2001: Nachdem wir drei Jahre sehr abgeschieden gelebt haben, kehren wir in ein Dorf zurück. Ein Gefühl des Erwachens.

APRIL 2001: Der Wald ist schön, auf einmal gefällt mir das sonst so gehasste Wandern sehr. Ich hüpfe voraus, bin übermütig und fröhlich. Plötzlich liege ich auf dem Boden, kann mein linkes Bein nicht mehr bewegen, das Knie schwillt an, ich habe Schmerzen. Mein Vater nimmt mich auf den Rücken und trägt mich nach Hause.

APRIL 2001: Ich beginne in Berlin die Zirkusschule. Ich kenne niemanden dort und mich fröstelt.

APRIL 2001: Ich mache mit einer Freundin Ferien in Island. Sie fährt zu schnell mit dem Auto. Die Polizei kommt uns entgegen, hält an, wendet und folgt uns mit Blaulicht. Zum Glück dürfen wir trotzdem weiterfahren.

MAI 2001: Unglaublich, ich bin auf der Bühne der Wiener Staatsoper und neben mir singt tatsächlich Plácido Domingo die Titelrolle in Bajazzo.

MAI 2001: Ich werde geschieden. Jetzt bin ich frei.

MAI 2001: Ich habe eine neue Theaterfamilie gefunden.

MAI 2001: Heimliche Heirat mit Petra im Bergell. Eine Befreiung für mich, ein Affront für meine Familie.

MAI 2001: Ich will weg aus der Schule. Eine Schneiderlehre beginnen! Meine Eltern überzeugen mich, doch Abitur zu machen. Der Kompromiss: Anmeldung auf dem beruflichen Gymnasium für Gestaltung.

MAI 2001: Als Flight Attendant bei der Balair habe ich eine Rotation nach Mauritius. Die Crew bleibt eine Woche auf der bezaubernden Insel. Einmal essen wir in einem winzigen Fischerdorf in einem kleinen Restaurant fangfrischen Fisch und Meeresfrüchte. Es ist das beste Essen in meinem Leben.

MAI 2001: Ich
 erzähle 
einer 
Bewohnerin 
des
 Altenpflegeheims

, in
 dem
 ich
 Zivildienst
 leiste, 
von 
meiner
 Homosexualität. 
Sie
 denkt
 lange
 nach
 und 
antwortet, 
dass 
sie 
in 
einer
 Zeit 
gross
 geworden
 ist, 
in 
der 
das 
als
 krank
 und
 pervers
 galt.
 Sie 
sagt
 weiter, 
dass 
sie 
aber 
anders
 über
 mich
 denkt,
 und
 dass 
sie
 bereit 
ist, 
zu 
lernen.


JUNI 2001: Ich erlebe im Frauenspital Bern die Geburt meiner ersten Tochter und bin überglücklich.

JUNI 2001: Ich sitze im Auto, vorne meine Eltern, neben mir meine Schwester, zwischen uns Sachen gestapelt. Der Hund unserer Nachbarn läuft am Auto vorbei. Als er uns sieht, freut er sich so sehr, dass er hinten zu uns ins Auto springt. Kurz darauf fahren wir ab. Ich lasse mein Zuhause hinter mir.

JUNI 2001: In der stationären Therapie sagt meine Therapeutin «Sie langweilen mich». Ich bin schockiert und verstehe, dass meine Gefühle fehlen. Ich muss sie wiederfinden.

JUNI 2001: Thomas gibt mir seinen Wohnungsschlüssel und kauft mir eine Bettdecke.

JULI 2001: Ich entscheide mich, keine Dissertation zu schreiben. Dank Laurenz erfahre ich vom Praktikum bei der Zeitung. Ich habe das Gefühl, am richtigen Platz gelandet zu sein.

JULI 2001: Ich verliere in kurzer Zeit alles, was mein Leben ausmacht und befinde mich plötzlich am Abgrund. Meine Partnerin verlässt mich, ich verliere all mein Geld, kehre in die Schweiz zurück und erleide ein Burnout.

JULI 2001: Nach zwei Monaten des Reisens stehe ich im Korridor des Studentenheims in Calgary, als mir meine Mutter am Telefon mitteilt, mein bester Freund sei heute gestorben.

JULI 2001: Meine Mutter trennt sich von meinem Vater nach über 45 Jahren Ehe. Ich bin froh für sie. Meinen Vater hat sie im Voraus nicht darüber informiert.

JULI 2001: Nach einem Autounfall lädt mich meine Ex-Freundin ein, mit ihr nach Sion an die Gay Pride mitzufahren. Meine zukünftige Ehefrau fährt im Auto mit.

JULI 2001: Ich sitze nach einer Camparivergiftung auf einem Kran am Rheinhafen, Sarah und ein Mann mit Marmeladebroten neben mir. Es wird schon wieder hell. Wir schauen in den Himmel, bis uns schwindlig wird.

JULI 2001: Auf einer Brücke in Budapest ziehe ich mit aller Kraft eine Frau von der Brüstung herunter. Im ersten Moment bin ich mir noch unsicher, ob das gut gewesen ist. Wir sitzen noch stundenlang zusammen im Park.

JULI 2001: Das Pony weicht zurück. In seinen aufgerissenen Augen tritt das Weisse hervor. Mein Herz rast, die Hand zittert. Ich habe gerade ein Tier geschlagen.

AUGUST 2001: Ich betrete widerwillig zum ersten Mal ein Fitnessstudio.

AUGUST 2001: Ich frage den Jungen neben mir, was vorne an der Wandtafel die Abkürzung FL bedeutet. Ich verstehe nicht, was er sagt, schreibe Flichtenstein auf. Die Schweizer sprechen eine andere Sprache und kennen andere Länder als ich.

AUGUST 2001: Ich beginne, kleine Texte zu schreiben. Daraus entwickelt sich eine regelrechte Schreibwut. Innerhalb von zwei Wochen habe ich 75 Texte vor mir liegen. Er und ich machen ein Künstlerbuch daraus.

AUGUST 2001: Sommer in Krakau und mein erster Wodka, ein winziger Schluck. Später klettere ich mit Diego aufs Dach und wir liegen nebeneinander und schauen den Schwalben zu und bewegen uns nicht. Wir werden uns immer verpassen.

AUGUST 2001: Ich lasse mich bei allem erwischen, bei dem man sich nicht erwischen lassen sollte. Ich habe meine erste Anzeige und bringe meine Mutter zur Weissglut.

AUGUST 2001: Ich bin in der Psychiatrie. Nach drei Tagen werde ich entlassen. Ich habe mich mit neunzehn Litern Mineralwasser selbst geheilt.

AUGUST 2001: Ich finde in der Bücherei kein ungelesenes Kinderbuch mehr, das mich interessiert.

SEPTEMBER 2001: Meine beiden Eltern sind im Spital. Während ich meinen Vater füttere, passiert das Attentat in New York. Er versteht nicht, was geschieht.

SEPTEMBER 2001: Spätabends fahre ich mit meinem kleinen Koffer eine endlose Rolltreppe aus der Metro empor und denke, dass ich mich in Lyon bald auskennen werde.

SEPTEMBER 2001: Ich bügle und schaue TV. Plötzlich wird die Sendung durch eine Liveschaltung unterbrochen und ich sehe den brennenden Nordturm des WTC. Da fliegt ein Flugzeug in den Südturm. Mir wird schlecht.

SEPTEMBER 2001: Ich liege in der MRT-Röhre, während das erste Flugzeug in die Twin Towers rast.

SEPTEMBER 2001: Ich lerne den Mann kennen, mit dem ich heute verheiratet bin. Nach vier Monaten Freundschaft werden wir ein Paar.

SEPTEMBER 2001: Ich sitze in einem Irish Pub in Wien und warte auf eine Bühnenbildner-Freundin. Ich bin wahnsinnig stolz, am Burgtheater zu arbeiten, und verstehe nicht, warum die Menschen um mich herum ständig auf Rauchwolken im Fernsehen starren. Wenige Tage später schenkt mir meine Mutter bei einem Wienbesuch meinen ersten eigenen Fernseher.

SEPTEMBER 2001: Mein Leben ist zu Ende. Der Arzt sagt, es gäbe immer noch Möglichkeiten. Aber ich habe keine Hoffnung mehr, dass wir jemals Kinder bekommen werden. Nichts hat mehr einen Sinn. Und in New York stürzen Wolkenkratzer ein.

SEPTEMBER 2001: Am 11. September sitze ich mit einem Freund zusammen, um Einladungen für ein geplantes Symposium zu versenden. Ein Freund ruft an und sagt, ich solle mal den Fernseher einschalten, in New York wäre etwas mit einem Flugzeugabsturz passiert. Wir sitzen gebannt vor dem Bildschirm und erleben, wie das zweite Flugzeug in den Tower rast und später der ganze Komplex zusammenstürzt.

SEPTEMBER 2001: Ich beginne eine Weiterbildung in Kunst und schwebe einen Meter über dem Boden.

OKTOBER 2001: Ich ziehe stolz und aufgeregt mit meinem allerersten und ein bisschen klapprigen Auto in eine andere Stadt, um mein Studium aufzunehmen.

OKTOBER 2001: Ich muss der russischen Richterin auf Französisch erklären, dass Lena ärztlichen Support benötigt und daher möglichst schnell in die Schweiz reisen müsse. Über das Geld, das unter dem Tisch in alle Taschen fliesst, sage ich kein Wort. Nach dieser denkwürdigen Gerichtssitzung wird die Adoption von der Petersburger Bürokratie abgesegnet. Lena darf Russland verlassen.

NOVEMBER 2001: Bei einem Verkehrsunfall werde ich schwer verletzt.

NOVEMBER 2001: Ich stehe hochschwanger in der Küche und stelle die selbstgemachten Maccaroni in den Backofen. Ich höre, wie sich mein Mann im Esszimmer mit unseren Gästen unterhält. Plötzlich platzt meine Fruchtblase. Meine kleine Tochter sieht das und eilt zu meinem Mann und lacht: «Papa, Mami pinkelt auf den Küchenboden!»

NOVEMBER 2001: Meine Schwester verunfallt und schwebt in Lebensgefahr.

NOVEMBER 2001: Neuanfang in der Schweiz. Hier treffe ich tief verwurzelte Menschen, die schon Bedenken haben, wenn sie nur ihren Kanton verlassen. Und ich treffe auch viele heimatlose Seelen wie mich. Die Kombination gefällt mir.

NOVEMBER 2001: Meine Mutter erzählt mir von Schritten, die sie höre und ich frage zum ersten Mal nicht nach, ob sie ihnen gefolgt sei.

NOVEMBER 2001: Ich ziehe zurück in die Schweiz und wohne zuoberst in einem alten Haus. Von der Küche aus sehe ich das Münster.

DEZEMBER 2001: Ich gehe das erste Mal zum Theater-Jugendclub. Noch am gleichen Abend werde ich süchtig nach dieser Droge, die man Theater nennt.

DEZEMBER 2001: Ich sitze mit meiner kleinen Enkeltochter vor dem Fernsehen, Tagesschau. Sie ist knapp zwei Jahre alt. Plötzlich, als Gerangel im Fernsehen zu sehen ist, wirft sie die Ärmchen hoch und sagt mit verzweifelter Stimme: «Omi, warum sanken die Menschen immer so?» ich antworte: «Aber du zankst doch mit Deinem Bruder auch, das ist eben so. Manchmal zanken sich Menschen eben.» Sie antwortet: «Nein, ich sanke nie, nie – Japer sankt mich!» Ich muss lachen und bin tief berührt, wie das kleine Kind das sieht.

DEZEMBER 2001: Mein Sohn ist gerade aus der Narkose erwacht. Er ist fast ein Jahr alt und hat seine zweite Herz-Operation gut überstanden. Jetzt wissen wir, dass er leben wird. Ich bin unendlich glücklich und erleichtert und halte ihn ganz fest in meinem Arm. Er sieht mir in die Augen.

DEZEMBER 2001: Ich wache aus dem Koma auf und habe keine Ahnung, was passiert ist und wo ich bin.

DEZEMBER 2001: Im Kino, wo ich arbeite, sehe ich «Birthday» von Stefan Jäger. Mit dreissig Schluss machen: Der Gedanke dieser Möglichkeit beruhigt mich.