2000

JANUAR 2000: Ich drehe gerade einen Dokumentarfilm in Sydney, als ich einen Anruf meiner Stiefgrossmutter bekomme, dass mein Grossvater bald sterben werde und ich deswegen sofort zurück in die Schweiz kommen solle.

JANUAR 2000: Ich bin in Amsterdam in der Ausbildung zum Somatic Movement Coach. Heute meinen Magen tanzen lassen. Die Wunder der Körpererforschung nehmen kein Ende.

JANUAR 2000: Ich verliebe mich und ziehe nach drei Monaten zum ersten Mal mit einem Freund zusammen. Das geht sechs Jahre lang gut.

JANUAR 2000: Nach Jahren als Familienfrau möchte ich wieder in den Beruf einsteigen. Dazu muss ich zunächst Computerkurse besuchen: In den letzten 20 Jahren hat sich viel getan im Sekretärinnenberuf!

JANUAR 2000: Millenium! Es ist mein sechzehnter Geburtstag! Die Welt geht nicht unter, Monika und ich sind zum ersten Mal betrunken.

FEBRUAR 2000: Fred und ich lernen uns in der Wohnung von gemeinsamen Freunden kennen – wir rauchen viel, wir reden viel, wir streiten uns schon in unserem ersten Gespräch und erleben den Streit als inspirierend.

MÄRZ 2000: Neuseeland, Sprachaufenthalt. Allmählich verstehe ich meine Mitmenschen und bin glücklich für das was ich bin.

MÄRZ 2000: Ich verteile für 5 Pfund die Stunde Flyer für Londoner Nachtclubs.

MÄRZ 2000: Meine Freundin und ich reisen nach Indien. In der frühen Morgendämmerung kommen wir mit dem Zug in Varanasi an und müssen mitsamt unserem Gepäck über die Menschen hinwegsteigen, die auf dem Perron übernachten. Es scheint aber, dass wir niemanden aufwecken.

MÄRZ 2000: Elena öffnet den Glückskeks für mich und liest vor: «Manchmal muss man einfach das tun, was einen glücklich macht.»

MÄRZ 2000: Mit Tina und ihrem Partner verlasse ich zum ersten Mal Europa und reise nach Indien.

APRIL 2000: Im Jugendchor lerne ich Christoph kennen. Er fotografiert schön und hört die wildeste Musik! Weil er der beste Schlagzeuger ist, gründen wir eine Band.

APRIL 2000: Ich lerne L.K. kennen und lieben. Er nimmt mich wie ich bin.

APRIL 2000: Ich hänge meinen sicheren Verdienst an den Nagel und stürze mich ins kalte Wasser der Selbständigkeit als Regisseurin und Autorin.

MAI 2000: Ich treffe Hans-Peter und spreche ihn auf den Übergriff vor 18 Jahren an. Ich war damals 17 und er mein Therapeut.

MAI 2000: Cécile lädt mich ins Museum ein. Rea führt uns durch die Ausstellung. Danach stehe ich in der Bahnhofstrasse, bin trunken vor Glück. Ich kann es kaum erwarten, Rea wieder zu sehen.

MAI 2000: Eine Immunkrankheit, welche mein bisheriges Leben stark mitbestimmte, hat sich einfach ausgewachsen und ist weg. Wie wunderbar.

MAI 2000: Ich stehe mit meinem Trio zuoberst auf dem Podest und bekomme die Goldmedaille in Sportakrobatik. In den folgenden Tagen legen uns mehrere Nachbarn die Zeitungsartikel mit unserem Bild in den Briefkasten.

JUNI 2000: Mein Vater lernt Venise kennen – sie wird eine wundervolle Stiefmutter und lehrt mich viel über das Leben.

JUNI 2000: Ich verliebe mich und stelle mich den Konsequenzen.

JUNI 2000: Ich treffe meinen Jugendfreund aus der Clique wieder. Wir küssen uns und versprechen, für immer zusammen zu bleiben – ich gewinne eine liebevolle Familie dazu.

JUNI 2000: Auckland Downtown, die Ampel ist grün und ich überquere wieder mal in vollem Schuss die Strasse auf meinem Fahrrad. Ein Glücksgefühl.

JUNI 2000: Ich entscheide mich schweren Herzens gegen das Berufsbild «Rockstar».

JULI 2000: Ich gewinne meinen ersten Lieblingsmann für mich.

JULI 2000: Juliette, unsere Kinderfrau, besucht uns in der Schweiz und flicht meinen Schwestern und mir noch einmal Mèches in unsere dünnen Haare.

JULI 2000: Wir stehen in der Mitte des kleinen Zimmers – ich kann nur einen Satz sagen, dann sehe ich, wie Stefan vor mir zerbricht.

JULI 2000: Ich ziehe nach Stuttgart-Bad Cannstatt. Ich erfahre, dass ein Typ, welchen ich über eine Ecke kenne, nur eine Strasse weiter wohnt. Die nächsten zwei Jahre besaufen wir uns miteinander im Club «Climax».

JULI 2000: Meine beste Freundin möchte nichts mehr mit mir zu tun haben.

JULI 2000: Ich lerne zu schreiben und zu lesen.

JULI 2000: Ich platze vor Stolz und Freude: Mein erster Bub. Es dauert ein paar Monate, bis er das erste Mal weint.

JULI 2000: In einem Zeltlager im Bleniotal rede ich eine Nacht lang am Feuer mit Konrad. Bei Sonnenaufgang küssen wir uns.

JULI 2000: Während der Sommerakademie «Moskauer Zeit» in Braunschweig und Hannover blühe ich wieder auf und denke, dass ich es doch nochmals mit dem Theater versuchen sollte.

AUGUST 2000: Ich mache den Schulabschluss und verliebe mich in D. – dabei bin ich doch schon mit T. zusammen und D. mit J. Ein knappes Jahr lieben wir kreuz und quer.

AUGUST 2000: Erste Unterrichtswoche, viele fremde Menschen stehen im Ballettsaal. Ein Typ in schwarzer Trainingshose fällt mir auf. Es ist mein zukünfiger Mann.

AUGUST 2000: Ich lerne Jennifer in einem Café kennen, als ich eine Zeitschrift stehlen möchte und sie mich dabei beobachtet und lachen muss, weil ich mich so ungeschickt anstelle.

AUGUST 2000: Eine grosse Liebe zerbricht. Ich verliere den Boden komplett.

AUGUST 2000: Meine Lieblingstante stirbt. Mein Vater entscheidet, dass wir nicht an die Beerdigung gehen, da wir in den Ferien sind. Ich bereue es heute noch.

AUGUST 2000: Ich schliesse meine Mediationsausbildung ab.

AUGUST 2000: Ich nehme meine erste Gesangsstunde – es ist wunderbar und wird mich weiter begleiten.

AUGUST 2000: Das Plastikröhrchen in meiner Speiseröhre schmerzt so sehr, dass ich meinen Speichel nicht mehr runterschlucken kann. Die Trinknahrung tröpfelt in meinen Magen. Sie fühlt sich kalt an und stinkt nach künstlicher Vanille.

SEPTEMBER 2000: Ich stehe auf dem Kopfsteinpflaster der Falkner Street, Liverpool, wo ich von jetzt an leben werde. Sie biegen im Auto meiner Mutter um die Ecke der Hope Street, ich bleibe mitten auf der Strasse stehen und denke «what the fuck am I doing here».

SEPTEMBER 2000: Ich habe eine eigene Wohnung und gehe auf eine neue Schule. Ein Mädchengymnasium. Drei Jahre lang lernen wir ernsthaft und vertieft in guter Klassengemeinschaft.

SEPTEMBER 2000: Auf dem Flug von San Francisco nach Zürich müssen wir notlanden. Ich bin die einzige, die sich über den Kurzbesuch in New York freut.

SEPTEMBER 2000: Mein Stiefvater stirbt in der Schweiz während einer Urlaubsreise. Trauer und Schmerz werden überlagert von Liebe und Dankbarkeit. Seebestattung in der Kieler Bucht.

SEPTEMBER 2000: Klara und ich fahren mit dem Velo durch Peking – und ein paar Tage später baden wir im Baikalsee.

SEPTEMBER 2000: Ich bin das erste Mal im Theater. Anschliessend gibt es eine Party und ich treffe das erste Mal auf Erwachsene, die sich nicht wie solche verhalten. Ich bin sofort verliebt in alles und falle auf dem Heimweg in ein Gebüsch.

SEPTEMBER 2000: Ich beginne mein Studium der Angewandten Theaterwissenschaft – es ist die bisher beste unüberlegte Entscheidung meines Lebens.

SEPTEMBER 2000: Peking–Moskau 7222 Km im Zug. An der Grenze zur Mongolei beschlagnahmen die Zöllner den Pass. Weil sie den Stempel, eine Lokomotive, nicht schön hingekriegt haben. Nach kurzen Verhandlungen kann die Fahrt, mit Pass, weitergehen.

SEPTEMBER 2000: Ich verliere meine Kontaktlinsen. Ich spaziere alleine in Berlin. Ich bin frei.

SEPTEMBER 2000: Ich brauche eine Brille, erzähle aber niemandem, dass ich schon lange nichts mehr lesen kann. Die Lehrerin merkt es und ich bekomme einen extra Platz vor der ersten Reihe, direkt vor der Tafel.

SEPTEMBER 2000: Während einer Tanzstunde beschliesse ich, nicht mehr Tänzerin werden zu wollen, sondern ab sofort Tänzerin zu sein. Seitdem tanze ich anders.

OKTOBER 2000: Mein Mathematikstudium beginnt und damit eine sehr spannende, sehr anstrengende und auch teilweise einsame Zeit. Ausserdem entwickelt sich meine wichtigste Freundschaft zu einer Mitstudentin.

OKTOBER 2000: Eine Wettschuld wird eingelöst. Ich bin nervös, mag meine Brille nicht. Kann ich bei Catherine übernachten? Wohin mit dem Linsenmittel?

OKTOBER 2000: In letzter Verzweiflung lege ich dem Sicherheitspersonal am Flughafen von L.A. die Streisand-Biographie vor als Beweis, dass ich keine anderen Absichten habe, als ein Konzert zu besuchen.

OKTOBER 2000: Dramatisches Ende. Ich muss am Nachmittag die Hälfte meines Teams entlassen und erfahre um 17 Uhr, dass es endgültig aus ist.

NOVEMBER 2000: Ich kann das Haus in Olten, in dem ich schon seit siebzehn Jahren lebe, kaufen. Ich bewohne es mit meinem Partner – bin eine behinderte Frau und fast immer glücklich.

NOVEMBER 2000: Mein erster Auftritt: Ein Chanson- und Musical-Abend von Freunden für Freunde. Ich fühle mich stark und wunderschön, und ehrlich bewundert. Es ist der schönste Tag meines Lebens.

NOVEMBER 2000: Die Musik spielt nicht. Ich verstehe, was Improvisation auf der Bühne ist. Und ich mag es.

NOVEMBER 2000: Ich wache mit dem Gefühl auf, dass etwas nicht stimmt. Wieso hat mich niemand geweckt? Ich habe doch Schule. Aus der Küche höre ich das leise Schluchzen meiner Mutter. Sie kauert in einer Ecke und ich nehme sie in den Arm. «Papa ist weg», sagt sie zu mir, «er hat ein Verhältnis mit Maren.» Meine heile Welt zerbricht in Tausende von Scherben und ich weiss, dass nichts mehr so ist, wie es war.

NOVEMBER 2000: Ich lese zum ersten Mal einen Text von Max Frisch. Das Gefühl, dass es andere Menschen gab und vielleicht gibt, die ähnliche Dinge denken wie ich.

NOVEMBER 2000: Ich lerne Jan kennen und begreife erst sehr viel später, dass das die grosse Liebe ist.

DEZEMBER 2000: Ich entscheide mich, mit Walter weiter zusammenzuleben.

DEZEMBER 2000: Ich stehe im Einkaufsladen mit einem Champagner unter dem Arm und einem Poulet in der Hand. Mein Bruder ruft mich aus Neuseeland an und wünscht mir ein frohes neues Jahr.

DEZEMBER 2000: Vernazza, Cinque Terre: Erstes farbiges Portrait von Heraldo. Beginn der «Ahnengalerie» in der Bar Blue Marlin mit verschiedenen Einwohnern des Dorfes.