1993

JANUAR 1993: Ich bin mit meinem Vater und meinem Bruder in den Ferien und bekomme das erste Mal meine Tage. Ich sage nichts.

JANUAR 1993: Zelten auf 3000 Meter: Wir wandern bei tollem Wetter hoch, gehen eingemummt bei Sternenhimmel schlafen und wachen im zugeschneiten Zelt wieder auf. Den folgenden Abstieg glaube ich nicht zu überleben.

JANUAR 1993: Ich gebe an einem Abend Harvey Keitel die Hand, Vanessa Redgrave, Roger Moore, Mutter Beimer, Horst Buchholz, Peter Ustinov, Bono und Kris Kristofferson. Ich habe es geschafft.

FEBRUAR 1993: Ich lese in der Fernsehzeitung von dem Film «My private Idaho». Ich bin völlig fasziniert vom Thema «Stricher». Davon habe ich noch nie etwas gehört.

MÄRZ 1993: Mein Bruder Erich stirbt an Leukämie, gegen die er vier Jahre lang mit Galgenhumor kämpfte: «Dann werde ich nicht an Demenz oder Zuckerkrankheit leiden.» Er arbeitete bis zum Schluss und sagte: «Blumen und Fotoalben bitte erst, wenn ich auf der Zielgeraden bin!»

MÄRZ 1993: Mein Name wird aufgerufen, ich habe die Aufnahmeprüfung bestanden!

MÄRZ 1993: Alles verändert sich und mein Körper spielt verrückt. Meine SchulkameradInnen mögen mich nicht sonderlich und ich habe seltsame Angewohnheiten.

APRIL 1993: Mein Vater kauft mir bei Aldi eine CD mit Mr. Oizo und den Backstreet Boys.

APRIL 1993: Ich ziehe zu meiner besten Freundin nach Köln – ich bin Regieassistentin am Theater, wir leben von katastrophal wenig Geld und sind glücklich.

APRIL 1993: Ich schaffe die Ausbildung zur staatlich anerkannten Erzieherin. Es war schwer als Alleinerziehende mit schulpflichtiger Tochter: Im alten Beruf gab es keine Stelle ohne Nachtdienst, ich fand niemanden, der meine Tochter in dieser Zeit versorgt hätte.

APRIL 1993: Nachdem ich den Gedanken schon eine Weile mit mir herumgetragen hatte, geht es plötzlich ganz schnell und wird ein Schritt für den Rest meines Lebens: Ich mache mich selbständig.

APRIL 1993: Mein einer Bruder kommt zur Welt.

MAI 1993: Françoise, meine Dozentin beim Kurs «Tänzerische Körperbildung» lockt uns zum Workshop «Tanzimprovisation». Etwas unsicher, aber neugierig melde ich mich an.

MAI 1993: Ich heirate M., den anderen M. in meinem Leben.

MAI 1993: Ich höre auf, mich bei meiner Familie zu melden.

MAI 1993: Ich verdiene richtig viel Geld.

MAI 1993: Nun ist es um mich geschehen. Ich sitze in seinem Auto und es gibt kein Zurück. Ich hätte nichts dagegen, wenn das süsse Kribbeln in meinem Bauch für immer bleibt und wir bis ans Ende unserer Tage in diesem Golf weiterfahren – so glücklich wie Juliette Binoche und Daniel Day-Lewis, die am Ende der unerträglichen Leichtigkeit gemeinsam bei einem Autounfall sterben.

MAI 1993: Ich lerne Horst, einen wirklich guten Vorgesetzten kennen. Mit viel Geduld hilft er mir in ein neues Leben zurück.

JUNI 1993: Ich bestehe die Aufnahmeprüfung in die Kanti. Rektor und Lehrerschaft sind gar nicht erfreut.

JUNI 1993: Ich höre nicht auf meine Mutter und gehe trotz Verbot draussen spielen. Ich stürze und muss zwei Löcher im Kopf nähen lassen.

JUNI 1993: Meine Freundin Chris steigt vor den Sommerferien in den Bus und kehrt nicht mehr als Chris wieder.

JUNI 1993: Wir ziehen von Baden ins Wallis. Für meine Eltern ist es eine Rückkehr in die Heimat. Sie denken, das sei für uns Kinder auch so.

JUNI 1993: An der Wand im Kindergarten hängen Fotos der künftigen Kinder in der Igel-Gruppe. Ein Foto fällt mir auf, es ist mein Kumpel Moritz.

JULI 1993: Meine Söhne verlassen beide zur gleichen Zeit unser Heim – der ältere wandert ins Ausland aus, der jüngere beginnt in einem anderen Kanton die Lehre. Kurz darauf stirbt mein Mami an Krebs.

JULI 1993: Mein Geburtstagsessen auf einem Schiff in Frankreich. Der Fluss fliest durch den Wald, Zwischenstopp. Ein angeschossenes Reh kommt vorbei, rennt zum See hinüber und springt hinein. Kurz darauf kommt ein angeschlagener Jäger, rennt zum See hinüber, steigt in ein Ruderboot, fährt zum Reh, springt ins Wasser und ersticht es im See.

JULI 1993: Ich entscheide mich für Sofie – meine erste grosse Liebe – und gegen Jesus. Das kostet mich die Glaubensgemeinschaft, die bis anhin ziemlich harmonische Beziehung zu meiner Familie und bringt mich in eine erste grosse Depression. Aber ich esse wieder Fisch.

JULI 1993: Ein Gewitter überrascht meine Schwester Sanne, unseren Vater und mich in den Alpen oberhalb der Baumgrenze. Wir spüren Überlebensangst beim Hinabrutschen über ein Geröllfeld.

JULI 1993: Ich tanze mit meinem Bruder zu «Mister Vain» auf der Terrasse.

JULI 1993: Ich lerne Valerie kennen und wir buchen gleich für vier Wochen Interrail.

JULI 1993: Der Nachbarsjunge ärgert mich. Ich zerreisse sein T-Shirt und jage ihn aus der Wohnung.

JULI 1993: Der Knecht verletzt einen Baum. Er will ihn mit einem Pflaster verarzten. Ich finde es lustig. Meine Geschwister nicht. Also lache ich auch nicht mehr.

AUGUST 1993: Die Lektüre von «Die Entdeckung des Chaos» verändert mein Weltbild.

AUGUST 1993: Meine Mutter hat hinausgezögert, was hinauszuzögern war, sie wollte meine Kindheit verlängern, sagt sie. Mit knapp acht Jahren werde ich eingeschult, ich bin der Älteste in der Klasse. Die Kindheit ist noch lange nicht vorbei!

AUGUST 1993: Nik, kaum geboren, macht in meinen Armen den letzten Atemzug.

AUGUST 1993: Mein «Meister» an der Kunstschule hält mich für begabt. Lob ist für mich schwer zu ertragen, dennoch bestärkt es mich.

SEPTEMBER 1993: Die Liebe besucht mich.

SEPTEMBER 1993: Die ganze Familie weint. Mein Meerschweinchen muss sterben.

SEPTEMBER 1993: Ich ziehe nach Basel.

SEPTEMBER 1993: Zusammen mit zwei Freunden fahre ich in einem orangen Jeep mit all meinen Sachen dem Rhein entlang. Basel wartet auf mich.

NOVEMBER 1993: Nach einem schlaflosen Nachtflug nach Brasilien dürfen wir auf dem Gericht von Sao Paulo unsere zwei Töchter in Empfang nehmen. Die Spannung ist kaum auszuhalten. Jean und ich schliessen die zwei kleinen Mädchen von der ersten Sekunde an ins Herz. Es gibt kein grösseres Glück auf Erden!

NOVEMBER 1993: Im Trauerseminar von Jorgos Canacakis merke ich: Meine Trauer ist echt, und ich bin es auch.

DEZEMBER 1993: Das Pferd legt seinen grossen Kopf in meinen Schoss, schliesst die Augen und schläft ein.

DEZEMBER 1993: Christian und ich heiraten am 23. Dezember, weil an Weihnachten alle Standesämter rund um Hamburg geschlossen sind. Unsere Hochzeit findet im Geheimen statt. Wir möchten nur für uns sein. Nach einem noblen Essen werden wir von unseren Trauzeugen zur letzen U-Bahn gebracht. Als wir zu Hause ankommen, ist es Weihnachten. Wir zünden die Kerzen unseres Weihnachtsbaumes an, geniessen unser Geheimnis und öffnen die Geschenke, die wir uns gegenseitig für unseren Tag gemacht hatten.

DEZEMBER 1993: Ich packe das Geschenk aus, dass ich mir so sehnlichst gewünscht habe: Eine Farbstiftschachtel mit 80 Stiften! Es kitzelt mich in den Fingern.