1992

JANUAR 1992: Ich sehe zum ersten Mal einen Menschen sterben.

FEBRUAR 1992: Wir zeigen ein hochinfantiles Gutenacht-Geschichte-Stück in der Schulaula. Der Saal tobt vor Vergnügen.

FEBRUAR 1992: Auflösung des Musiktheaters Oberhausen, wo ich zwanzig Jahre lang Soloflötistin und später noch Orchestergeschäftsführerin war, und für das ich mich auch politisch engagiert habe – ich verliere mehr als nur meine Arbeitsstelle.

FEBRUAR 1992: Nach einem Ausflug wohnen wir ein paar Tage in Banjul. Mein Vater untersucht mich und zwickt mir fünf Zecken vom Körper, vier davon von der Stirn, gleich am Haaransatz. Er zerdrückt sie im Alkohol, damit sie sterben.

MÄRZ 1992: Matthias sagt: «Ich hab mich in jemand anderen verliebt». Ich lege mich in die Badewanne.

MÄRZ 1992: Meine Tochter Maja erblickt, ein wenig zögerlich, das Licht der Welt. Der zuständige, reichlich ungeduldige Oberarzt will die Sache vor Feierabend erledigt haben und zerrt sie mit der Saugglocke buchstäblich ans Tageslicht.

APRIL 1992: Die künstlerische Ausbildung wird Wirklichkeit.

APRIL 1992: Vom Regierungsrat des Kantons Bern werde ich zum Dozenten an die Ingenieurschule Burgdorf gewählt.

MAI 1992: Ich wache nach einem schweren Autounfall im Spital auf und kann weder sprechen noch mich bewegen – das ganze Leben muss ich von Neuem erlernen.

MAI 1992: Ich spreche das Mädchen mit dem Cello an und frage sie, ob sie in unserer Straße wohnt.

MAI 1992: Mein Vater sagt mir nebenbei: «Die richtigen Worte im richtigen Moment können für immer hängen bleiben. Die falschen Worte im falschen Moment leider auch.»

JUNI 1992: Freiwillig wiederhole ich ein Schuljahr. Meine Noten werden besser, meine Freunde wechseln schmerzlich.

JUNI 1992: Mir wird klar, dass es auch in der Philosophie Denkverbote gibt.

JUNI 1992: Meine Freundin entdeckt während einer Schulpause das erste weisse Haar auf meinem Kopf.

JUNI 1992: Ich reise nach Amerika. Alleine. Zwei Monate im Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

JUNI 1992: In meinem Austauschjahr in Südafrika wird mein indischer Gastvater so aufdringlich, dass ich die Gastfamilie wechsle. Ich lerne meine Familie zu Hause schätzen und vermisse Deutschland.

JUNI 1992: Der Beginn des Ruhestands ist eine grosse Erleichterung für mich. Jetzt habe ich endlich Zeit für Ausflüge in Deutschland. Ich besuche auch meine Afghanin und ihre Familie in Kanada und nehme an drei afghanischen Hochzeiten teil.

JULI 1992: Ich erlebe das Opferfest zum ersten Mal in der Türkei. Wir sind bei meiner Oma in der Stadt und ich gehe aus dem Haus. Ein enthauptetes Tier hängt an der Decke, aber nicht das interessiert mich, sondern das mit Wasser gemischte Blut, das im Vorhof meine Sommerschlappen durchtränkt.

JULI 1992: Kerstin und ich rauchen heimlich hinter einem Strohballen. Es schmeckt grässlich. Das spielt keine Rolle.

JULI 1992: Umzug I

JULI 1992: Mein Patenonkel stirbt an Aids.

JULI 1992: Mein Abschlusszeugnis ist das beste vom ganzen Schulhaus.

JULI 1992: Der See ist eiskalt. Ich hebe meinen rechten Arm, um zu kraulen. Licht leuchtet in Wassertropfen auf. Sie fallen herunter in den See und mein Herz expandiert.

JULI 1992: Auf dem Rückweg vom Bahnhof hält mich meine Mutter an der Hand, während ich auf einem Steinmäuerchen balanciere: «Kommt Papi nie mehr zurück?»

AUGUST 1992: Ich lerne meinen ersten Ehemann kennen. In einem unserer ersten Gespräche sagt er, dass es ihm ernst sei und er sich wegen der letzen Beziehung fast umgebracht hätte. Ich denke, dass es mir nicht ernst ist und mir diese Aussage Angst macht. Ich sage: Mir ist es auch ernst.

AUGUST 1992: Ich sitze am Bett meiner wimmernden und stöhnenden Mutter. Wochenlang ein endloses, quälendes Sterben. Wieso kennt das Schicksal keine Gnade?

AUGUST 1992: Ich schaffe den Sprung ins Progymnasium. Hier finde ich endlich Freunde.

AUGUST 1992: Ich reise alleine durch Kenia und Tansania. Ich kann, was meine Ahnen nicht konnten: die Welt sehen.

AUGUST 1992: Wandertheater durch die USA in einem Dodge Van: Meine fünf BegleiterInnen und ich zeigen «Die Reise nach Khonostrov» von Boris Vian in einem Yacht-Club.

SEPTEMBER 1992: Auf dem Schulhof bekomme ich von meinem besten Freund eine schallende Ohrfeige. Die Freundschaft ist beendet.

SEPTEMBER 1992: Ich werfe meinem Bruder ein Spielzeugauto an den Kopf. Er antwortet mit einem Holzscheit. Meine Schwestern schützen mich.

SEPTEMBER 1992: Es ist ein Wochenende im Lagerhaus. Ich schleiche nachts zu ihm ins Zimmer. Wir haben Sex. Dann gehe ich wieder. Es ist wie die Szene in dem Film mit Juliette Binoche und Jeremy Irons.

OKTOBER 1992: Atemberaubende Kargheit am Strand meiner neuen Heimat, in welcher mit Becketts «Glückliche Tage» meine glücklichen Jahre am Theater beginnen.

OKTOBER 1992: Auf dem Finanzamt in Baden wünscht man mir viel Glück auf meinem weiteren Lebensweg. Ich habe Arbeit und Wohnung gekündigt, mich in der Schweiz abgemeldet und reise mit einem Einweg-Ticket nach Ecuador, für unbestimmte Zeit.

OKTOBER 1992: Im Kindergarten ärgern die Jungs uns Mädchen und wollen uns küssen, ich komme als erste auf die Idee, einfach zurück zu küssen. So bekomme ich meinen ersten Kuss, auch noch von meiner großen Kindergartenliebe Daniel. Alle um uns herum schreien «Iiiiiih» und ich bin das glücklichste Mädchen auf der Welt.

NOVEMBER 1992: Mit meinen Schwestern sitze ich auf dem Elternbett, wir dürfen den Raum nicht verlassen. An der Haustür steht mein drogensüchtiger Onkel.

NOVEMBER 1992: Die Liebesgeschichte mit Stefan beginnt. Ich denke: Das geht nie vorbei.

NOVEMBER 1992: Ich ertrinke fast im Pazifik.

NOVEMBER 1992: Anita, eine der talentiertesten unserer Theatergruppe, stürzt sich mitten in der Nacht mit ihrer Bibel in der Manteltasche von der Kirchenfeldbrücke.

DEZEMBER 1992: Ich trenne mich von Brigitte.

DEZEMBER 1992: Wir besuchen meinen Bruder an Weihnachten im Krankenhaus, dürfen ihm aber nur durch die Fensterscheibe winken.

DEZEMBER 1992: In einem braunen Umschlag liegt ein roter Briefbogen von Stefan. Ich habe noch nie etwas gelesen, das so schön ist.