1989

JANUAR 1989: Ich bin sieben Jahre alt und beschliesse, mindestens achzig Jahre lang zu leben.

FEBRUAR 1989: Spaziergang im Schnee mit meinem Bruder. Er ist müde, möchte nicht mehr leiden. Ich sage, ja, ich verstehe und weiss, dass ich ihn nicht halten kann.

FEBRUAR 1989: Ich reise hinter den Eisernen Vorhang, seit meiner Ausreise war ich nie mehr dort. In Prag sehe ich abends Menschentrauben in den stillen Strassen. Sie stehen vor Schaufenstern mit laufenden Fernsehern. Am nächsten Tag treffe ich zum ersten Mal nach zwanzig Jahren meinen Vater. Wir verbringen vier Tage miteinander.

FEBRUAR 1989: Ich werde zum ersten Mal von einer anderen Firma abgeworben und fühle mich grossartig.

MÄRZ 1989: Nach zehn Tagen im künstlichen Koma, beginne ich wieder zu atmen.

MÄRZ 1989: Die Partnerschaft mit meiner Lebensgefährtin beginnt: Mit ihr wird die Unmöglichkeit gemeinsamen Arbeitens und Lebens ausser Kraft gesetzt – und eine kinderlose Beziehung möglich, weil von beiden gewünscht.

MÄRZ 1989: Mein erster Job als selbständige Requisiteurin beim Film «La nuit des eclusiers». Der Dreh ist sehr anstrengend. Ich bin glücklich.

MÄRZ 1989: Endlich endet meine erste Ausbildung. Ich fühle mich frei und kann selber bestimmen, was ich tun und was ich lernen will.

MÄRZ 1989: Jasmin verzweifelt an ihrem Leben, das sie zum Teil in der Psychiatrie und zunehmend gefangen in sich selbst verbringt. Ich studiere mittlerweile und bin auch häufig verzweifelt. Sie wirft sich vor einen Zug. Ich lerne, dass man nahezu alles überstehen kann.

APRIL 1989: Wir ziehen nach Neustadt am Rübenberge, wo mein Mann seine erste Stelle als Ingenieur antritt. Familie, Arbeitskollegen und Freunde bleiben zurück. Ein weinendes und ein lachendes Auge!

APRIL 1989: Nach dem Arbeitseinsatz in Diriomo in Nicaragua reisen wir zu viert an die Atlantikküste. Die Häuser sind nach dem Hurrikan gerade erst wieder aufgebaut.

MAI 1989: Ich verliebe mich und sage meinem Mann, dass ich ihn verlassen will. Wir sitzen nebeneinander im Garten neben dem Komposthaufen und weinen beide. Ich liebe meinen Mann über alles und verlasse ihn trotzdem.

MAI 1989: Meine Band gewinnt den Nachwuchs-Wettbewerb im lokalen Jugendzentrum.

MAI 1989: Ich komme glücklich, dreckig und müde aus meinem ersten Pfingstlager zurück.

MAI 1989: Public Transport Freetown-Conakry. Becken an Becken stehen wir im überfüllten Gefährt. Weltuntergangsunwetter und wir stecken im Schlamm fest. Wieso entsteht kein Aufruhr unter den Fahrgästen?

MAI 1989: In einem Gebüsch mit einem älteren Mädchen, dessen Namen ich nicht aussprechen kann, entdecke ich ein neues aufregendes Gefühl.

JUNI 1989: Ich zeichne im Kindergarten meinen Traum auf ein grosses Papier. Alle sagen, dass Fische nicht viereckig sind. Aber ich weiss doch genau, was ich geträumt habe!

JUNI 1989: Sili Ranger Station, irgendwo in Sierra Leone. Der amerikanische Peace Corps Mitarbeiter ist abgereist. Ich bleibe und arbeite mit den Park Rangern. Thema des Abends: What matters more, men or money?

JUNI 1989: Ich werde an einem Casting bei Mummenschanz aufgenommen. Vor mir liegt eine dreijährige Welttournee.

JUNI 1989: Richard stirbt aus unerklärlichen Gründen mit 65 Jahren – ich entscheide mich, nie mehr zu weinen und werde Vegetarierin.

JUNI 1989: Meine Mutter versucht sich im Zimmer neben mir das Leben zu nehmen. Im Krankenhaus sagt sie zu mir: «Du wärst doch froh gewesen, wenn es geklappt hätte.» Ich bin dreizehn Jahre alt.

JUNI 1989: Wunderbares grosses Hochzeitsfest mit meiner ersten Ehefrau auf einer Jurahöhe.

JUNI 1989: Beim Rennen falle ich auf die Türkante zwischen meinem ersten Kinderzimmer und dem Balkon. An meiner linken Augenbraue entsteht eine Narbe.

JUNI 1989: Gespannte Stimmung im Klassenzimmer der 2A. Frau Striemer verkündet die Bestnoten und blinzelt mich dabei an. Es gibt eine einzige Note 6 zu vergeben und ich fühle mich in Stolz und Ruhm gehüllt, als sie meinen Namen nennt.

JULI 1989: Ich lerne meine Frau kennen. Wir werden zusammen drei Kinder haben.

JULI 1989: Ich kiffe zum ersten Mal.

JULI 1989: Igor spricht mich im Quartierladen an, nachdem wir uns lange schon gegenseitig beobachtet hatten.

JULI 1989: Nachdem wir gemeinsam den Film «Harem» mit Omar Sharif geschaut haben, zeigt uns unser Grossvater, wie ein Filmkuss geht. Wir sind erleichtert.

JULI 1989: Mein letzter Deltaflug endet mit einem Absturz.

AUGUST 1989: Die erste unserer vier Töchter wird geboren. Sie schaut uns ruhig eine Stunde lang an. Ich habe das Gefühl, ausserhalb von Raum und Zeit zu sein. Es ist wunderschön.

AUGUST 1989: Meine Mutter, mein Bruder und ich flüchten nach einiger Wartezeit in der Botschaft über Ungarn in den Westen. Wir verlieren im reissenden Grenzfluss unsere Pässe und die meisten Kleider. Das West-Frühstück bei den österreichischen Polizisten ist grandios.

AUGUST 1989: Meine Tante ruft während dem Mittagessen an, Mama sagt weinend zu Papa, er solle das Telefon nehmen, und läuft selber ins Schlafzimmer, Papa hinterher. Meine Schwester und ich bleiben verunsichert am Mittagstisch zurück. Als Mama zu uns zurückkommt, erfahren wir: Unser 21-jähriger Onkel ist tödlich verunglückt.

AUGUST 1989: Nachdem mir die Ablösung meiner Kinder schwer gefallen war, kommt meine erste Enkelin zur Welt. Ich spüre, wie in mir eine Falle zuschnappt: Ich bin wieder ganz an ein Kind gebunden.

SEPTEMBER 1989: Ich beginne, Teo zu lieben.

SEPTEMBER 1989: Ich habe mich total verknallt. In eine Stadt. Und ziehe auch gleich zu ihr hin.

SEPTEMBER 1989: Mein Selbstmordversuch scheitert und ich entdecke meine Kreativität.

SEPTEMBER 1989: In einer Psychotherapie beginne ich, mir selbst zu begegnen.

SEPTEMBER 1989: Einige Monate nach der Trennung von meiner ersten Partnerin melde ich mich bei einer Partnervermittlung an. Nach verschiedenen Kontakten, die alle sehr schnell im Sande verlaufen, will ich mich eigentlich schon wieder abmelden, doch dann treffe ich die Frau, mit der ich heute noch zusammen lebe.

SEPTEMBER 1989: Im Nachbardorf kaufe ich mir meine dritte Kassette überhaupt. Weder den Bandnamen (The Cure) noch den Albumtitel («Disintegration») bin ich fähig richtig auszusprechen. Die Musik auf der Kassette entzieht sich meinem klanglichen Verständnis – ich kaufte sie nur wegen der Single «Lullaby». Doch verändert das Album alsbald meine Hörgewohnheiten fundamental.

OKTOBER 1989: Mit meiner Familie sitze ich im Vorraum eines Heims im Süden Chiles: Gleich werde ich meine neue Schwester kennenlernen.

NOVEMBER 1989: Ich besuche Sophie nach ihrer Operation im Spital. Sie ist ganz grün im Gesicht. Am Abend vorher ist die Mauer in Berlin gefallen.

NOVEMBER 1989: Die Mauer fällt. Mein Bruder hört in dieser Zeit sehr viel Radio und erfährt es als Erster. Am nächsten Tag sitze ich mit ihm im Zug nach Berlin.

NOVEMBER 1989: Ich bin wieder voll berufstätig in einer Apotheke und finde dort Freundinnen und Freunde.

NOVEMBER 1989: Mauerfall. Ich bekomme in Berlin West hundert D-Mark auf die Hand und gebe diese sofort im «World of Music» für neun Madonna Platten aus. Es reicht noch für ein Macadamia Eis von Mövenpick für 2,50 Mark – Eis in der DDR hat maximal 25 Pfennig gekostet und auch so geschmeckt.

NOVEMBER 1989: In den Abendnachrichten bekomme ich zufällig mit, dass irgendetwas in der DDR geschieht. An diesem Abend fällt die Mauer. Ich sitze die ganze Nacht durch am Fernseher und verfolge die Ereignisse. Ich denke an Stefan Zweigs «Sternstunden der Menschheit» und habe die Gewissheit, die grösste politische Umwälzung in der Welt mitzuerleben, die in meinem Leben geschieht.

DEZEMBER 1989: Ich bin zum zweiten Mal in Prag und nehme an jeder Demonstration teil. Vaclav Havel und Peter Uhl sind im Gefängnis. Mit meinem Freund läute ich bei Peter Uhls Wohnung, seine Frau öffnet uns Fremden die Tür und bittet uns sofort herein, nachdem er sich als Matthias F. von der Vierten Internationalen vorgestellt hat. Nach einer Stunde Übersetzungsarbeit plaudern wir zwei Frauen tschechisch.

DEZEMBER 1989: Meine Schwester und ich packen einen Koffer mit Weihnachtsschmuck für unseren Vater. Er zieht aus.

DEZEMBER 1989: Mein erster PC wird mir zu Weihnachten geschenkt: Ein Olivetti M 20. Ich kugle mich auf dem Teppich vor Freude.

DEZEMBER 1989: Die Wende ist im Gange, ich besuche meine Freunde in Berlin. Dort herrscht Chaos, alles ist möglich. Zu Silvester tanzen wir auf geklauten Autos, bis die Polizei mit einem Mannschaftswagen anrückt.

DEZEMBER 1989: Ich stelle fest, dass ich den Winter überhaupt nicht mag. Meinen Eltern sage ich, sie sollen mir lieber Spielzeug anstatt warmer Kleidung kaufen. Ich werde nämlich erst wieder das Haus verlassen, wenn es warm ist.