1986

JANUAR 1986: Als mich die Ärzte vor der Operation ein letztes Mal untersuchen, ist das Ganglion auf einmal nicht mehr da.

FEBRUAR 1986: Ich verlasse meine Wohnung und meinen Freund und ziehe in einen Zirkuswagen.

FEBRUAR 1986: Mein Leben ist schrecklich dunkel geworden. Und die Müdigkeit will nicht mehr fortgehen.

FEBRUAR 1986: Reise in die Sowjetunion: Moskau, Leningrad. Die gefrorene Newa und die Eremitage beeindrucken mich.

MÄRZ 1986: Meine beste Freundin Jessica hat Windpocken und kann sich nicht von mir verabschieden, als wir zurück nach Luxemburg ziehen.

APRIL 1986: Meine Nichte wird am selben Tag geboren wie meine im Krieg verschollene Tante. Mein Bruder nimmt seine wenige Stunden alte Tochter und legt sie neben unsere todkranke Grossmutter auf das Kopfkissen. Sie wendet mühsam den Kopf und gibt dem Kind einen Kuss auf der Wange, flüstert: «Ich habe auch einmal eine Tochter gehabt.»

MAI 1986: Ich sitze im Kinderwagen, den meine Grossmama schiebt. Es ist meine erste Erinnerung überhaupt und meine einzige Erinnerung an sie.

MAI 1986: Ich schaue aus dem Fenster und sehe meinen Vater beim Rasenmähen. Die schöne Wiese mit Margeriten und gelb leuchtendem Löwenzahn mäht er ab. Tschernobyl.

JUNI 1986: Sonntag, 14:53 klingelt es und mein Bruder steht vor der Tür. Er ist 16 Jahre älter als ich. Ich erfahre auf diese Weise, dass ich kein Einzelkind bin. Von jetzt an muss ich damit leben, belogen worden zu sein. Ich forsche nach und entdecke insgesamt acht Halbgeschwister von sechs verschiedenen Frauen, mit denen mein Vater zusammen war. Ich nehme mir vor, alle Geschwister zu finden und kennenzulernen – egal, wie lange es dauern wird.

JUNI 1986: Ich fahre als frischgebackener Maturand auf der Heimreise von Basel über die Lorrainebrücke und denke selbstbewusst: Ich kann alles, die ganze Welt wartet auf mich.

JUNI 1986: Endlich 20 – endlich volljährig!

JUNI 1986: Mein Vater bringt eine Schachtel mit Löchern mit nach Hause. Darin ist ein junger Hund.

JUNI 1986: Mein Bruder wird geboren. Ich bin bei meiner Grossmutter im Garten und bade meinen Plüschaffen im gelben Waschbecken.

JUNI 1986: Meine Tochter Lena kommt sechs Wochen vor dem eigentlichen Termin zur Welt und verbringt die ersten zwei Tage im Brutkasten. Sie erholt sich schnell. Nach vier Tagen dürfen wir nach Hause.

JULI 1986: Ich mache allein Urlaub bei meinen Cousins in Deutschland.

JULI 1986: Ich lerne meinen Vater kennen und fliege mit ihm in die Ferien. Mein erster Flug.

JULI 1986: Ein kleines Medikament verursacht eine grausame Allergie am ganzen Körper und bringt mich sechs Wochen ins Bett. Ich sehe aus wie ein Zombie.

AUGUST 1986: Ich kippe mir bei einem Familientreffen eine volle Kanne kochend-heissen Pfefferminztee über die Beine. Am Abend höre ich, wie mein Vater sich im Bad erbricht. Ich kann drei Monate später wieder laufen. Meine Freundin Feli bringt mich dazu. Meine 1. Schulklasse singt mir ein Lied unter dem Balkon.

AUGUST 1986: Es ist vier Uhr nachmittags. Eine Freundin ruft an und sagt mir, sie habe eben auf der Liste gesehen, dass ich die erste Runde zur Schauspielschule überstanden habe. Ich will sofort zur Schule rennen und die Liste selbst durchlesen. Doch ich habe seit dem Morgen drei Päckchen filterlose Zigaretten geraucht. Ich brauche für eine Strecke, die ich sonst in einer Viertelstunde zurückgelegt hätte, eine halbe und denke mir, es wäre ziemlich blöd, ausgerechnet jetzt zu sterben.

AUGUST 1986: Schulpädagogischer Seminarleiter, dann Rektor; Teil einer ganz besonderen Schule: eine gelungen Synthese aus Kooperativer und Integrierter Gesamtschule. Dieses Modell wird nach und nach von vielen Schulen im Land übernommen. Damit erreichen wir eines der Ziele, die uns 68ern so wichtig waren: Schule verändern.

AUGUST 1986: Ich werde an einer Mimenschule aufgenommen und kündige innert drei Wochen meine Schreineranstellung.

SEPTEMBER 1986: Mein Vater erschiesst erst meine Mutter und dann sich selbst. Kurze Zeit später stirbt meine Oma an Krebs. Ich beerdige ihre Urnen alle gleichzeitig.

OKTOBER 1986: Hohensolms Ferienseminar der Spiel- und Theaterwerkstatt Frankfurt. Ich lande bei Fritz Rohrer im Kurs. Wir erschaffen die Welt. Gott sah, dass es gut war und ich weiss, dass ich in diese Welt gehöre.

OKTOBER 1986: Ich verliere aus ungeklärter Ursache alle Körperbehaarung, auch auf dem Kopf. Ich muss ins Krankenhaus und viele Tests und Therapien durchstehen. Ich bin aber gesund, habe bis heute keine Haare und trotzdem ein wunderbares Leben.

NOVEMBER 1986: Die Chemie-Katastrophe in Schweizerhalle zeigt uns drastisch, welchen Risiken wir in der Region Basel ausgesetzt sind und wie verantwortungs- und hilflos Industrie und Behörden im Ernstfall mit uns Bürgern umgehen.

DEZEMBER 1986: In einer Fernsehdoku im Vorabendprogramm sieht man, wie der erfrorene Scott in der Antarktis gefunden wird. Der Anblick des Toten schockiert mich so, dass ich danach wochenlang nicht richtig schlafen kann, nur bei Licht und offener Zimmertür.