1985

FEBRUAR 1985: Die erste richtig lange Reise: mit meinem Freund sieben Wochen durch Indien. Wir stranden am Flughafen Madras, als er schwer erkrankt. Ein indisches Ehepaar nimmt uns mit nach Hause, holt einen Arzt und bezahlt ihn – wir haben ja kaum Geld. Wir dürfen eine Woche bleiben, bis er sich erholt hat.

MÄRZ 1985: Ich treffe mich mit meiner ersten Liebe zufällig in Plön und dann, geplant, in Hamburg. Es entwickelt sich eine freundschaftliche Beziehung.

MÄRZ 1985: Wir ziehen in ein Haus mit einem grossen Garten.

MÄRZ 1985: Ich werde in einer privaten Schauspielschule aufgenommen. Endlich kann ich meinen Beruf erlernen. Es lohnt sich doch zu leben!

MÄRZ 1985: Mein Vater sitzt mit kahlrasiertem Kopf am Tisch und eröffnet uns Kindern, dass er ausziehen wird. Die Tränen laufen mir wie ein Bach über die Wangen und tropfen in das Spiel, das vor mir liegt. Einen Ton krieg ich keinen raus.

MÄRZ 1985: Ich beginne, mich mit der Geschichte meines Grossvaters zu beschäftigen, der 1929 das erste Feinkostgeschäft auf der Schwäbischen Alb eröffnete und in den letzten Tagen des 2. Weltkrieges erschossen wurde, weil er zur Desertion aufgerufen hatte. Ich fühle mich ihm nahe.

APRIL 1985: Euphorisches Gefühl beim Aufstehen. Anziehen, Kündigung schreiben und ab zum Chef. Denn ich habe eine Erleuchtung und weiss nun endlich was ich werden will: Langzeitstudent!

JUNI 1985: Ich breche mein Jus-Studium ab und flüchte fünf Monate in die Alpes d'Haute-Provence. Dort hüte ich am Vormittag zwei Kleinkinder und entdecke nachmittags per Deux-Chevaux die Umgebung. Ich verliebe mich in die Sprache und die Region.

JUNI 1985: Klassenfahrt nach Wien. Erste Begegnung mit zu viel Alkohol. Ich stürze ab, verliere mich in mir. Meine beste Freundin Jasmin zeigt mir, wie sie sich ritzt. Ich beginne auch damit. Wir sind Blutsgeschwister und seelenverwandt.

JUNI 1985: Mein Vater sagt: «Ich ziehe aus. Hilfst du mir?»

JUNI 1985: Per Zufall treffe ich Karl im Gartenbad. Wir kennen uns, weil unsere Söhne im gleichen Club Fussball spielen. Wir haben beide gerade eine gescheiterte Beziehung hinter uns.

JULI 1985: Auf 
die
 Frage
 zum
 endgültigen
 Abschied 
meiner
 Kindergartenliebe, 
ob 
ich 
sie
 liebe, 
sage
 ich 
«Nein».

JULI 1985: Ich kann ohne Hilfe auf einen hohen Baum klettern, von welchem aus ich mit meinem Bruder meine Eltern und die Nachbarn im Garten beobachten kann – dort oben erfinden wir Geschichten.

AUGUST 1985: Mein Vater reist mit mir fünf Wochen lang durch die USA. Ich sehe «Panama» von Van Halen auf einem Sender namens MTV.

AUGUST 1985: Ich lerne Anna kennen. Neue Welten eröffnen sich mir und eine wichtige Freundschaft beginnt.

AUGUST 1985: Wir sind wieder in der Deutschschweiz und ich bringe in Affoltern unseren Sohn zur Welt.

AUGUST 1985: Ich sitze bei diesen fremden Grosseltern und möchte nur noch nach Hause.

AUGUST 1985: Unser Sohn wird in Affoltern am Albis geboren. Er ist lustig, liebevoll und voller Optimismus.

AUGUST 1985: Beim Spielen mit meinem Bruder breche ich bewusstlos zusammen. Mein Bruder denkt ich sei tot, und fängt an zu weinen, statt meine Mutter zu holen. Sie hört aber mein Röcheln und legt mich so hin, dass ich wieder atmen kann.

AUGUST 1985: Ich bin bei der Geburt unserer Tochter dabei und erlebe das Wunder des Lebens. Im gleichen Monat erfülle ich mir einen meiner Lebensträume und kaufe ein Eigenheim nahe der Stadt.

AUGUST 1985: Seit gestern hat das Wetter umgeschlagen. Es blitzt und donnert und unsere Tochter wird abends geboren. Ich bin müde, erschöpft und unsagbar glücklich. Nach ein paar Jahren des Hoffens ist sie endlich da und ich spüre, dass ich froh bin, dass es ein Mädchen ist. Ich fühle mich ihr als Frau sofort sehr verbunden.

SEPTEMBER 1985: Ich kaufe einen wunderschönen Altbau, um eine Hausgemeinschaft mit Freunden zu gründen. Der Turm des Hauses braucht ein neues Dach. Da es unter Denkmalschutz steht, muss es ein Schieferdach sein. Wegen des Hauskaufs fehlt mir das Geld. Da fällt mir ein, dass ich ein wertvolles kleines expressionistisches Originalgemälde besitze. Ich packe das Bild in ein orangenes Frotteehandtuch und nehme es an die ART COLOGNE mit. Dort werde ich mit Tasche hereingelassen und gehe zu einer renommierten Galerie, der ich das Bild zeige. Ich verabrede, zwei Tage später wiederzukommen, und recherchiere im Museum den Preis. Zwei Tage später bringe ich das Bild wieder auf die ART und verlasse die Messe mit der Tasche voller Geldscheine für das Schieferdach.

SEPTEMBER 1985: Ich liege im Bett und kann nicht einschlafen. Wenn doch die morgige Doppelstunde Turnen nur schon vorbei wäre. Ich hasse Turnunterricht.

SEPTEMBER 1985: Kinder klammern sich an mich in einem Heim für Strassenkinder in Mandirituba, Brasilien. Ich bekomme eine Ahnung davon, was Verlassensein bedeutet.

SEPTEMBER 1985: Ich sitze im Speisesaal des Internats, sage: «Wirf mir mal 'nen Knödel rüber.» Corinna wirft ihn über den Tisch und er landet auf dem Boden. Der Lehrer vom Dienst ermahnt uns.

OKTOBER 1985: Nach den Herbstferien kommt ein Schüler zu mir und fragt mich, ob ich einen Hund möchte. Ich sage spontan zu.

NOVEMBER 1985: Ich «gehe» mit Bucki, 16. Nach ca. sechs Wochen wird er Schluss machen, weil nichts Richtiges läuft.

DEZEMBER 1985: Es ist Abend, meine Eltern sind weg. Meine Zwillingsschwester und ich werden von meinem Grossvater sexuell missbraucht. Ich darf es niemandem erzählen. Nichts ist mehr, wie es vorher war.

DEZEMBER 1985: Meine Mutter stirbt nach langer Schwäche im Katharinen-Krankenhaus in Frankfurt. Ich bin sehr einsam. Ich lerne eine jüngere Afghanin kennen, die sich um mich kümmert. Leider zieht sie dann zu ihrer Familie nach Kanada.

DEZEMBER 1985: Ich werde an die Pforte des Museums gerufen – ein Paket ist für mich abgegeben worden. Ich mache gerade eine schwierige Zeit durch, denn ich habe mich kurz zuvor von meinem Mann getrennt. Das Päckchen haben meine Eltern geschickt, es ist ein Nikolauspäckchen für mich erwachsene Frau und enthält einen selbstgebackenen Kuchen. Ich bin ganz gerührt, muss lachen und denke: So etwas machen nur Eltern.

DEZEMBER 1985: Ich spiele den Josef im Krippenspiel und singe solo: «I bin nu en kliina Zimmermaa».