1977

JANUAR 1977: Mein Mann macht sich mit einem Handwerksbetrieb selbständig. Neben der Kindererziehung und der übrigen Arbeit als Ehe- und Hausfrau erledige ich die Buchhaltung und arbeite als kaufmännische Angestellte noch teilzeitlich auswärts um das 1873 erbaute Elternhaus meines Mannes zu renovieren und auszubauen.

FEBRUAR 1977: Skiwanderung im Wildstrubelgebiet. Wegen der Arbeitspflicht am folgenden Tag fahre ich auf den Skiern alleine ins Tal zurück. Ich komme vom offiziellen Weg ab, ein Schneebrett löst sich – knapp an mir vorbei.

FEBRUAR 1977: Ich setze mich in den Zug nach Ascona, wo ich eine Aupair-Stelle habe. Mein Vater winkt mir zum Abschied zu. Drei Wochen später stirbt er an einem Herzinfarkt. Ich sehe ihn immer noch winken.

FEBRUAR 1977: Mein Grossvater stirbt. Alle stehen um meine Mutter und weinen. Ich gehe in mein Zimmer, schaue zum Vollmond auf und denke, er ist da oben.

MÄRZ 1977: Ich bin in meinem Zimmer und höre die Kirchenglocken von St.Otto. Mein Herz wird ganz weit und in mir drin wird es merkwürdig still.

MÄRZ 1977: Ich fahre zum ersten Mal allein in einem Auto und fühle mich deswegen schon fast erwachsen. Etwas später finde ich meinen Namen und meine Adresse im Telefonbuch und fühle mich noch erwachsener.

APRIL 1977: Es brennt.

APRIL 1977: Wir ziehen von Langenthal nach Winterthur. Ich verliere buchstäblich die Orientierung – ich kenne mich mit den Himmelsrichtungen nicht mehr aus.

APRIL 1977: Ich begegne im Hallenbad in Hamburg-Ohlsdorf zum ersten Mal meinem Mann. Er ist mit seiner Jugendgruppe zum Schwimmen verabredet, zu der ich auch gehören möchte. Im Wasser kommen wir uns näher.

APRIL 1977: Nach einem zweitägigen Eignungstest an der Kunstgewerbeschule Basel werden von mehreren hundert Bewerbern 60 Schüler ausgewählt – ich habe es geschafft! Ich schlendere durch Basels Gassen und fühle mich glücklich und privilegiert.

APRIL 1977: Nach sieben Wochen Ausbildung geht's als Flugbegleiter auf Strecke nach Chicago, New York, Los Angeles und Nairobi.

JUNI 1977: Wir besuchen meinen Grossvater in Polen. Ich falle auf der Strasse hin und schlage mir das Knie auf. Er klebt ein Pflaster auf mein Knie und gibt mir die restlichen mit den Worten: «Damit du in Deutschland immer ein Pflaster hast.»

JUNI 1977: Nach meinem Studienabschluss und diversen Tätigkeiten, die alle kein oder nur sehr wenig Geld einbringen, entscheide ich mich für eine radikale Wende: ich trete als Pharmavertreter bei der damaligen Sandoz ein. Mit meinem Anfangslohn von 2600 Franken komme ich mir richtig reich vor.

JULI 1977: Ich ziehe zurück zu meinen Eltern und fühle mich einsam und verloren.

AUGUST 1977: Ich bin mit meinem Mann in einer Reisegruppe auf Weltreise. Auf Tahiti bricht er bei der Ankunft ohnmächtig zusammen. Eine französische Klinik vermutet Kalziummangel. Ich glaube das nicht. Meine Intuition sagt mir, dass mein Mann sterben könnte. Im Hotel werden unsere Pässe gestohlen. In Santiago de Chile, der nächsten Reisestation, muss ich alleine beim Konsulat neue Pässe holen.

AUGUST 1977: Endlich: Mein erster Schultag ist da, auf den ich mich wahnsinnig gefreut habe. Es ist ein tolles Gefühl, mit der blauen Schultasche und deren orange reflektierenden «Katzenaugen»-Verschlüssen und dem Etui, das mit Farb- und Bleistiften, Gummi, Filzstiften und all den Schulwerkzeugen gefüllt ist, zur Schule zu marschieren.

AUGUST 1977: Nach zwei unglücklich verlaufenden Schwangerschaften kriegen meine Eltern ihr ersehntes Wunschkind. Ich komme in einer offenbar langwierigen und komplizierten Geburt zur Welt, gesund und munter.

SEPTEMBER 1977: Gymnasium Biel. Am Tag nach der Abschlussfeier erwache ich spät vom Glockengebimmel der Kühe, die neben dem Elternhaus weiden. Ich fühle mich glücklich.

OKTOBER 1977: Der alte Herr Stalder, unser Nachbar, feiert mit mir zusammen Geburtstag. Ich realisiere, dass zwei Menschen am selben Tag Geburtstag haben können, auch wenn sie unterschiedlich alt sind.

OKTOBER 1977: Ich erfülle mir den Traum junger Mädchen und heirate einen Musiker – meinen Schwarm und Jugendfreund.

DEZEMBER 1977: Zum ersten Mal höre ich meine liebsten Opernsängerinnen live: Margaret Price in «Cosí fan tutte» in Genf und Joan Sutherland in «Maria Stuarda» in London mit meiner Schwester Marianne.