1971

FEBRUAR 1971: Ich lasse mir die langen Haare schneiden.

MÄRZ 1971: Mein Vater verstirbt an Krebs, den er selbst meiner Mutter jahrelang verschwiegen hatte. Er wollte Rücksicht auf seine Familie nehmen. Als gelernte Krankenschwester hatte sie schon allein an den verordneten Medikamenten erkannt, was mit ihm los war. Sie litt wohl mehr an seiner Verschwiegenheit als unter der Krankheit selber.

MÄRZ 1971: Sonntag Nachmittag vor der Kinderdisco: Ein langhaariger, weichgesichtiger junger Mann kommt auf mich zu, grinsend. Ich bin irritiert, verwirrt und total verknallt.

APRIL 1971: Will nicht weg aus Genf, will nicht nach Zürich, falle in ein Loch.

MAI 1971: Beim Abendessen fragt mein Bruder, in welcher Partei mein Vater sei. «Weisst du das denn nicht?», sage ich erstaunt. Ich freue mich: Endlich weiss ich etwas, was meine älteren Geschwister nicht wissen. «Dänk bi dr SBB.» Da lachen alle. Weinend laufe ich in mein Zimmer.

MAI 1971: Wir sollen im Deutschunterricht einen Aufsatz schreiben, haben zwei Themen zur Auswahl. Ich kann mich nicht entscheiden und schreibe wie wild erst über das eine, dann über das andere Thema. Die Hand tut mir weh, aber ich schreibe und schreibe. Am nächsten Tag werden beide Aufsätze vor der versammelten Klasse vorgelesen.

MAI 1971: Ich fahre drei Kilometer mit dem Velo von meinen Eltern zu meinen Grosseltern, am Rand einer viel befahrenen Landstrasse. Ich falle mehrmals in den Strassengraben. Ich komme unverletzt an.

JUNI 1971: Ich berühre zum ersten Mal das andere Geschlecht.

JUNI 1971: Meine zukünftige Frau studiert am gleichen Ausbildungsort. Im Klassenlager lernen wir uns näher kennen.

JULI 1971: Auf dem Schulhausplatz entdecke ich ein blondes Mädchen. Die langjährige Freundschaft mit meiner zukünftigen Partnerin beginnt.

AUGUST 1971: Ich bekomme den Namen Lucas, ja mit C, weil das schöner aussieht, behauptet meine Mutter immer wieder. Den Namen entnehmen meine Eltern nicht der Bibel, sondern der DDR Kinderserie «Feuerwehr Felicitas».

AUGUST 1971: Ich entscheide mich, mein Studium für ein Jahr zu unterbrechen, um im Vorstand des Verbandes der Studierenden an der ETH Zürich zu arbeiten.

SEPTEMBER 1971: Mein leiblicher Sohn wird wegen eines Drogendelikts verhaftet. Mein Mann steht zu ihm. Ich bete viel und alles geht gut aus.

OKTOBER 1971: Unser Sohn Dieter kommt in Paris zur Welt.

OKTOBER 1971: Zum ersten Mal Sex.

NOVEMBER 1971: Ich gehe zum ersten Mal mit Maja aus.

DEZEMBER 1971: Mit meiner Schwester liege ich quer auf dem Sofa, unsere Beine sind brückenbauend auf den dazugehörigen Tisch gestützt – wir lesen ein spannendes Buch und müssen herzhaft, ausgiebig lachen.

DEZEMBER 1971: Walter und ich heiraten am zweiten Weihnachtstag.