1956

FEBRUAR 1956: Ich war mit Mama in den Winterferien, und bei der Rückkehr hat Vater für meinen Geburtstag eine dreistöckige Rüeblitorte gebacken. Küche und Bad sind voll mit gebrauchtem Geschirr.

APRIL 1956: Mein Grossvater darf endlich in einem kleine Dorf bei Oldenburg Lehrer sein. Sowohl in der Nazi-Zeit als auch in der DDR hatte er Berufsverbot, weil er nicht in die jeweils herrschende Partei eintreten wollte.

APRIL 1956: Ich werde eingeschult und stelle sehr überrascht fest, dass ich ganz woanders stehe als meine Schulkameraden: ich kann bereits lesen, dafür aber weder Velofahren noch Fussball spielen.

MAI 1956: Meine Eltern streiten laut und heftig. Die Glasscheiben unserer Küchentür gehen in die Brüche. Ich verkrieche mich unter den Küchentisch und fühle mich schuldig.

JUNI 1956: Ich darf mit einem Kollegen im Seminar am Mittagstisch den Dritten Satz aus dem a-Moll Violinkonzert von Bach vortragen.

JULI 1956: Meine Eltern und ich beobachten in Süddeutschland in einem Wald eine Fuchsfamilie. Ich beginne, mir selbst und anderen Geschichten zu erzählen.

JULI 1956: Ich bin drei Jahre alt, meine Oma trägt mich auf dem Arm. Ich beobachte ein anderes kleines Kind, das im Hinterhof mit Hundescheisse matscht. Es trägt einen kleinen Ring mit einem glitzernden blauen Stein.

JULI 1956: Ich begrüsse die Welt an einem sehr heissen Sommertag mit einer Abfolge von Seufzern. Noch heute ist mir die Hitze lieber als die Kälte.

SEPTEMBER 1956: Esthi springt mir in einem unbeobachteten Moment vom Sprungbrett ins tiefe Wasser nach und wird kurz vor dem Ertrinken gerettet.