1945

JANUAR 1945: Ich fliehe mit meiner Mutter und meinen Grosseltern in einem Viehwagen bei minus 20 Grad aus Allenstein. Die Lokomotive wird kaputt geschossen, aber mit einer Rangierlok gelingt die Ausfahrt aus dem Bahnhof ins nächste Dorf, kurz bevor die Russen den Bahnhof besetzen. Mein Vater bleibt zu Hause. Um Mitternacht verlässt auch er die Stadt zu Fuss.

JANUAR 1945: Als wir in Königsberg ankommen, haben die Russen Ostpreussen umzingelt. Ein junger russischer Kriegsgefangener sagt mir eindringlich: «Bleiben Sie nicht hier, gehen Sie fort über’s Wasser.» Am nächsten Abend gehen wir in Pillau auf ein Schiff und landen am Sonntag in Eckernförde. Von dort werden wir auf’s Land verteilt und bei einer Bauernfamilie einquartiert. Mein Grossvater wird unterwegs von uns getrennt. Ich höre nie wieder etwas von ihm.

JANUAR 1945: Meine Eltern, meine Oma, meine Schwester Renate, meine zehn Tage junge Schwester Heide und ich fliehen mit dem letzten Zug aus Grünberg.

FEBRUAR 1945: Ich kann mit einer Wehrmachtsgruppe aus Ostpreussen fliehen. In Stettin hören wir bereits die Artillerie der Russen, aber wir schaffen es gerade noch.

MAI 1945: Kriegsende. Mit den Amerikanern kommt eine neue Welt. Wir sind frei und glücklich, überlebt zu haben. Die Zeitung gibt es nicht mehr. Ich finde Arbeit bei Radio Frankfurt, einem Sender der Militär-Regierung. Dort finde ich auch meinen Mann – er ist genau so jung wie ich.

MAI 1945: Der Krieg ist zu Ende – endlich keine Angst mehr! Endlich Freiheit, mein Leben zu gestalten! Ich erlebe die ersten Amerikaner beglückt.

JUNI 1945: Ich erfahre zum ersten Mal von den KZ’s und den Millionen Toten. Entsetzen. Fragen über Fragen, die mich heute noch bewegen.

JUNI 1945: Nach der Flucht mit Mutter und zwei Geschwistern über das zugefrorene Haff kommen wir in Pommern unter. Dort treffen wir in einer Flüchtlingsunterkunft völlig zufällig auf die drei kleinen Kinder meines Bruders, der als Soldat dient und dessen Frau in diesem Lager verstorben ist. Ich erkenne die Kinder nur an den Kleidern, die sie früher von uns bekommen hatten.

AUGUST 1945: Mein Vater, zu Fuss aus Berlin zurückgekehrt, paukt mit mir tschechische Vokabeln und Grammatik. Meine Mutter bringt mir einige tschechische Lieder bei. Die singe ich möglichst laut, wenn sie sich auf der Strasse mit Bekannten auf Deutsch unterhält, was verboten ist. Wir müssen unsere Wohnung räumen und ziehen in die Praxis unseres Ohrenarztes, der, wie viele Deutsche, in Panik geraten war und sich umgebracht hat, nachdem die Russen die Ostgrenze überschritten hatten.